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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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für natürliche Dinge, sondern auch für die Erzeugnisse des menschlichen Gei¬
stes und für alle Gebilde, die er aus sich herausgetrieben hat und in denen
er seine Eigenart abspiegelt. Es bleibt immer noch eine gewisse Thätigkeit
in alter Weise bestehen und sähen wir allein ihre Ergebnisse vor uns, so
würden wir keine Ursache haben, sie bloß als die letzten Wasserschößlinge in
dem absterbenden Holze zu betrachten. Nur im Vergleich mit der Fülle des
neuen Lebens, das sich aus dem Stamme selbst, aber in einem nach ganz
anderer Himmelsgegend heraufwachsenden neuen Aste entwickelt, läßt sich
erkennen, daß der Strom der geistigen Säfte jetzt nach anderen Gesetzen und
in anderen Bahnen circulirt.

Auf diese Art ist die Mitte des 13. Jahrhunderts wirklich eine Epoche
von tief, einschneidender Bedeutung für die deutsche Historiographie. Ist sie
es doch auch auf so viel anderen Gebieten des geistigen Lebens, des Staates,
der Gesellschaft, kurz des ganzen Volksdaseins. Auch für das Bewußtsein
unserer heutigen Auffassung der deutschen Vergangenheit knüpft sich an die
Vorstellung des großen Interregnum das Bild einer allgemeinen Umwälzung
des deutschen Lebens, wenn auch selbstverständlich dies Bild der Mehrzahl
derer, die es in der Seele tragen, nur in sehr unbestimmten Umrissen und be¬
deckt mit tiefen Schattenparthien vorschwebt, welche keineswegs durch die
optischen Gesetze der geschichtlichen Ueberlieferung und des geschichtlichen Wis¬
sens gerechtfertigt sein dürften.

Für die spätere Periode des Mittelalters, das "Nachmittelalter." wie
man es wohl genannt hat, oder den "Uebergang vom Mittelalter zur Neuzeit"
ist es, wie schon solche unbehülfliche Terminologien erweisen, schwer, eine
ähnlich scharf einschneidende Grenzmarke aufzufinden. Allgemein gilt die Re¬
formation als solche, aber wann und wo beginnt diese selbst? oder soll man
die Entdeckung einer amerikanischen Insel, wovon man in Deutschland zuerst
gar keine Notiz nahm, dafür gelten lassen? oder vielleicht als gute Reichs¬
patrioten den ewigen Landfrieden und die Einsetzung des Reichskammerge¬
richts, wovon der eine nicht gehalten wurde, das andere wegen Mangel an
Geld sofort wieder aus einander stob? Beschränken wir uns nur auf das
Gebiet der Historiographie, so läßt sich wohl erkennen, daß ungefähr mit
der Wende des 15. Jahrhunderts auch auf ihm eine Wende eintrat, etwas
neues wenn auch nicht originelles sich durchzuarbeiten begann, die gelehrte
Geschichtschreibung im Hinblick auf die classischen Muster eines Livius, Sal-
lust, Justinus, hie und da auch des Sueton und Tacitus. Aber daneben
grünt und blüht die alte Weise ungestört fort, ja sie steigert sich erst zu
wahrer Massenproduction, wie sich damals alle Art von Literatur seit und
durch Erfindung des Bücherdruckes so unendlich verbreiterte. Das lesende
Publicum, das seit dem 14. Jahrhundert eine ganz besondere Vorliebe für


für natürliche Dinge, sondern auch für die Erzeugnisse des menschlichen Gei¬
stes und für alle Gebilde, die er aus sich herausgetrieben hat und in denen
er seine Eigenart abspiegelt. Es bleibt immer noch eine gewisse Thätigkeit
in alter Weise bestehen und sähen wir allein ihre Ergebnisse vor uns, so
würden wir keine Ursache haben, sie bloß als die letzten Wasserschößlinge in
dem absterbenden Holze zu betrachten. Nur im Vergleich mit der Fülle des
neuen Lebens, das sich aus dem Stamme selbst, aber in einem nach ganz
anderer Himmelsgegend heraufwachsenden neuen Aste entwickelt, läßt sich
erkennen, daß der Strom der geistigen Säfte jetzt nach anderen Gesetzen und
in anderen Bahnen circulirt.

Auf diese Art ist die Mitte des 13. Jahrhunderts wirklich eine Epoche
von tief, einschneidender Bedeutung für die deutsche Historiographie. Ist sie
es doch auch auf so viel anderen Gebieten des geistigen Lebens, des Staates,
der Gesellschaft, kurz des ganzen Volksdaseins. Auch für das Bewußtsein
unserer heutigen Auffassung der deutschen Vergangenheit knüpft sich an die
Vorstellung des großen Interregnum das Bild einer allgemeinen Umwälzung
des deutschen Lebens, wenn auch selbstverständlich dies Bild der Mehrzahl
derer, die es in der Seele tragen, nur in sehr unbestimmten Umrissen und be¬
deckt mit tiefen Schattenparthien vorschwebt, welche keineswegs durch die
optischen Gesetze der geschichtlichen Ueberlieferung und des geschichtlichen Wis¬
sens gerechtfertigt sein dürften.

Für die spätere Periode des Mittelalters, das „Nachmittelalter." wie
man es wohl genannt hat, oder den „Uebergang vom Mittelalter zur Neuzeit"
ist es, wie schon solche unbehülfliche Terminologien erweisen, schwer, eine
ähnlich scharf einschneidende Grenzmarke aufzufinden. Allgemein gilt die Re¬
formation als solche, aber wann und wo beginnt diese selbst? oder soll man
die Entdeckung einer amerikanischen Insel, wovon man in Deutschland zuerst
gar keine Notiz nahm, dafür gelten lassen? oder vielleicht als gute Reichs¬
patrioten den ewigen Landfrieden und die Einsetzung des Reichskammerge¬
richts, wovon der eine nicht gehalten wurde, das andere wegen Mangel an
Geld sofort wieder aus einander stob? Beschränken wir uns nur auf das
Gebiet der Historiographie, so läßt sich wohl erkennen, daß ungefähr mit
der Wende des 15. Jahrhunderts auch auf ihm eine Wende eintrat, etwas
neues wenn auch nicht originelles sich durchzuarbeiten begann, die gelehrte
Geschichtschreibung im Hinblick auf die classischen Muster eines Livius, Sal-
lust, Justinus, hie und da auch des Sueton und Tacitus. Aber daneben
grünt und blüht die alte Weise ungestört fort, ja sie steigert sich erst zu
wahrer Massenproduction, wie sich damals alle Art von Literatur seit und
durch Erfindung des Bücherdruckes so unendlich verbreiterte. Das lesende
Publicum, das seit dem 14. Jahrhundert eine ganz besondere Vorliebe für


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[0372] für natürliche Dinge, sondern auch für die Erzeugnisse des menschlichen Gei¬ stes und für alle Gebilde, die er aus sich herausgetrieben hat und in denen er seine Eigenart abspiegelt. Es bleibt immer noch eine gewisse Thätigkeit in alter Weise bestehen und sähen wir allein ihre Ergebnisse vor uns, so würden wir keine Ursache haben, sie bloß als die letzten Wasserschößlinge in dem absterbenden Holze zu betrachten. Nur im Vergleich mit der Fülle des neuen Lebens, das sich aus dem Stamme selbst, aber in einem nach ganz anderer Himmelsgegend heraufwachsenden neuen Aste entwickelt, läßt sich erkennen, daß der Strom der geistigen Säfte jetzt nach anderen Gesetzen und in anderen Bahnen circulirt. Auf diese Art ist die Mitte des 13. Jahrhunderts wirklich eine Epoche von tief, einschneidender Bedeutung für die deutsche Historiographie. Ist sie es doch auch auf so viel anderen Gebieten des geistigen Lebens, des Staates, der Gesellschaft, kurz des ganzen Volksdaseins. Auch für das Bewußtsein unserer heutigen Auffassung der deutschen Vergangenheit knüpft sich an die Vorstellung des großen Interregnum das Bild einer allgemeinen Umwälzung des deutschen Lebens, wenn auch selbstverständlich dies Bild der Mehrzahl derer, die es in der Seele tragen, nur in sehr unbestimmten Umrissen und be¬ deckt mit tiefen Schattenparthien vorschwebt, welche keineswegs durch die optischen Gesetze der geschichtlichen Ueberlieferung und des geschichtlichen Wis¬ sens gerechtfertigt sein dürften. Für die spätere Periode des Mittelalters, das „Nachmittelalter." wie man es wohl genannt hat, oder den „Uebergang vom Mittelalter zur Neuzeit" ist es, wie schon solche unbehülfliche Terminologien erweisen, schwer, eine ähnlich scharf einschneidende Grenzmarke aufzufinden. Allgemein gilt die Re¬ formation als solche, aber wann und wo beginnt diese selbst? oder soll man die Entdeckung einer amerikanischen Insel, wovon man in Deutschland zuerst gar keine Notiz nahm, dafür gelten lassen? oder vielleicht als gute Reichs¬ patrioten den ewigen Landfrieden und die Einsetzung des Reichskammerge¬ richts, wovon der eine nicht gehalten wurde, das andere wegen Mangel an Geld sofort wieder aus einander stob? Beschränken wir uns nur auf das Gebiet der Historiographie, so läßt sich wohl erkennen, daß ungefähr mit der Wende des 15. Jahrhunderts auch auf ihm eine Wende eintrat, etwas neues wenn auch nicht originelles sich durchzuarbeiten begann, die gelehrte Geschichtschreibung im Hinblick auf die classischen Muster eines Livius, Sal- lust, Justinus, hie und da auch des Sueton und Tacitus. Aber daneben grünt und blüht die alte Weise ungestört fort, ja sie steigert sich erst zu wahrer Massenproduction, wie sich damals alle Art von Literatur seit und durch Erfindung des Bücherdruckes so unendlich verbreiterte. Das lesende Publicum, das seit dem 14. Jahrhundert eine ganz besondere Vorliebe für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/372>, abgerufen am 25.07.2024.