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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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schast und der untern Chargen darzustellen suchte. Noch ein anderer Umstand
trug wesentlich dazu bei, die Theilnahme an den Debatten des Reichtags bei
uns zu mindern, nämlich der Geist, in welchem die Verhandlungen wie früher
des Norddeutschen, so jetzt des Deutschen Reichstags geführt werden. Die
norddeutschen Redner sprechen präcis und sachlich. Hervorragende Redner
glänzen mehr durch die feineren Blüthen der Beredtsamkeit, durch Witz,
Ironie, Anspielung, als durch schwungvolles Pathos und Appell an das
Gefühl. Jene Beredtsamkeit macht nun aber an unser süddeutsches Publicum
nach dem durchschnittlichen Bildungszustand der Zeitungsleser zu hohe An¬
sprüche. Der Mehrzahl fehlt die Kenntniß von Personen und Sachen, welche
das Verständniß gerade der bedeutendsten Reden in ihren pikantem Zuthaten
erfordert: man findet dann die sachliche Haltung dieser Reden langweilig, so¬
weit solche nicht etwa geradezu von der Parteipresse für die Zwecke ihres Pu-
blicums umgearbeitet werden, in welcher Beziehung die demokratischen Blät¬
ter, voran die Frankfurter Zeitung, wahrhaft großartige Leistungen aufzu¬
weisen haben. Dazu kommt, daß in Folge der gänzlich veränderten Situation
und bei den unverhältnißmäßig gesteigerten Ansprüchen, welche man heutzu¬
tage im Vergleich mit den Zeiten der Frankfurter Grundrechte an den Red¬
ner stellt, die süddeutschen Abgeordneten, welche noch im Frankfurter Parla¬
ment eine hervorragende Rolle spielten, mehr in den Hintergrund getreten
sind, womit von selbst das specielle Interesse, welches sich an die Person der
Redner knüpft, für die süddeutschen Leser hinwegfallen mußte. Vermochte daher
der Ernst, mit welchem. die Debatten des Reichstags geführt wurden, die Auf¬
merksamkeit der Bevölkerung nicht in dem Maaße zu fesseln, wie es die große
Tragweite seiner Beschlüsse erwarten ließ, so folgte man dagegen mit um so
größerem Interesse den Angriffen einzelner süddeutscher Abgeordneter aus das
bei uns bisher herrschende Regierungssystem. Hier fühlte man sich plötzlich
wieder auf heimischem Boden: man war überdies aus allen Seiten von den
persönlichen Kämpfen der letzen Jahre noch so sehr erfüllt, daß man auch
bei dem Reichstag dasselbe Interesse für die im Augenblicke wenigstens
nur noch internen Fragen der bisherigen württembergischen Politik voraus¬
setzte. Diese Stimmung der Wähler wirkte auch auf die Abgeordneten zurück.
Man fühlte nach den gehässigen Entstellungen aus der Zollparlamentszeit,
vielleicht nicht immer im opportunen Zeitpunkt, das Bedürfniß, endlich einmal,
nachdem der Terrorismus der Gegner beseitigt, vor ganz Deutschland der
Wahrheit die Ehre zu geben. Natürlich schüttete sofort die ganze demokra¬
tische und ultramontane Presse des Südens ihre Galle über die Abgeordneten
aus, welche wagten, durch ihre Aeußerungen über die schwäbischen Preß-
und andere Zustände unter dem Ministerium Varnbüler die Blüthezeit der
süddeutschen Freiheit zu verunglimpfen. Auch im "württembergischen Staats-


schast und der untern Chargen darzustellen suchte. Noch ein anderer Umstand
trug wesentlich dazu bei, die Theilnahme an den Debatten des Reichtags bei
uns zu mindern, nämlich der Geist, in welchem die Verhandlungen wie früher
des Norddeutschen, so jetzt des Deutschen Reichstags geführt werden. Die
norddeutschen Redner sprechen präcis und sachlich. Hervorragende Redner
glänzen mehr durch die feineren Blüthen der Beredtsamkeit, durch Witz,
Ironie, Anspielung, als durch schwungvolles Pathos und Appell an das
Gefühl. Jene Beredtsamkeit macht nun aber an unser süddeutsches Publicum
nach dem durchschnittlichen Bildungszustand der Zeitungsleser zu hohe An¬
sprüche. Der Mehrzahl fehlt die Kenntniß von Personen und Sachen, welche
das Verständniß gerade der bedeutendsten Reden in ihren pikantem Zuthaten
erfordert: man findet dann die sachliche Haltung dieser Reden langweilig, so¬
weit solche nicht etwa geradezu von der Parteipresse für die Zwecke ihres Pu-
blicums umgearbeitet werden, in welcher Beziehung die demokratischen Blät¬
ter, voran die Frankfurter Zeitung, wahrhaft großartige Leistungen aufzu¬
weisen haben. Dazu kommt, daß in Folge der gänzlich veränderten Situation
und bei den unverhältnißmäßig gesteigerten Ansprüchen, welche man heutzu¬
tage im Vergleich mit den Zeiten der Frankfurter Grundrechte an den Red¬
ner stellt, die süddeutschen Abgeordneten, welche noch im Frankfurter Parla¬
ment eine hervorragende Rolle spielten, mehr in den Hintergrund getreten
sind, womit von selbst das specielle Interesse, welches sich an die Person der
Redner knüpft, für die süddeutschen Leser hinwegfallen mußte. Vermochte daher
der Ernst, mit welchem. die Debatten des Reichstags geführt wurden, die Auf¬
merksamkeit der Bevölkerung nicht in dem Maaße zu fesseln, wie es die große
Tragweite seiner Beschlüsse erwarten ließ, so folgte man dagegen mit um so
größerem Interesse den Angriffen einzelner süddeutscher Abgeordneter aus das
bei uns bisher herrschende Regierungssystem. Hier fühlte man sich plötzlich
wieder auf heimischem Boden: man war überdies aus allen Seiten von den
persönlichen Kämpfen der letzen Jahre noch so sehr erfüllt, daß man auch
bei dem Reichstag dasselbe Interesse für die im Augenblicke wenigstens
nur noch internen Fragen der bisherigen württembergischen Politik voraus¬
setzte. Diese Stimmung der Wähler wirkte auch auf die Abgeordneten zurück.
Man fühlte nach den gehässigen Entstellungen aus der Zollparlamentszeit,
vielleicht nicht immer im opportunen Zeitpunkt, das Bedürfniß, endlich einmal,
nachdem der Terrorismus der Gegner beseitigt, vor ganz Deutschland der
Wahrheit die Ehre zu geben. Natürlich schüttete sofort die ganze demokra¬
tische und ultramontane Presse des Südens ihre Galle über die Abgeordneten
aus, welche wagten, durch ihre Aeußerungen über die schwäbischen Preß-
und andere Zustände unter dem Ministerium Varnbüler die Blüthezeit der
süddeutschen Freiheit zu verunglimpfen. Auch im „württembergischen Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/35>, abgerufen am 24.07.2024.