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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Ueberraschendes geleistet hat, wird Freund und Feind ihm ohne Bedenken
zugestehen. Wir sagen Ueberraschendes; denn was über die Stimmung des
Landvolkes seit dem Falle von Metz und der Ergebung Bazaines verlautete,
schien die Erwartung zu rechtfertigen, daß die Franzosen, des Widerstandes
müde und von seiner Fruchtlosigkeit überzeugt, die Waffen von sich weisen
würden, die Gambetta's Machtgebote ihnen aufzuzwingen suchten. Dies war
ein Irrthum gewesen; Gambetta's Wille war mächtiger, als die von Tage
zu Tage sich steigernde Friedenssehnsucht, als der gesunde Menschenverstand,
der in jedem neuen Unternehmen nur die Ursache neuer Niederlagen voraus¬
sah. Wie kam, daß dennoch Gambetta stets "unwilligen Muth den zum Tod
Hinwandelnden weckte?" Wie kam, daß Frankreich, in eine große Waffen¬
schmiede verwandelt, Schaaren auf Schaaren zum Kämpfen aussandte, freilich
zuchtlose, ungeübte Schaaren, die ihr Schicksal voraushaben, aber doch unge¬
heure Massen, deren Ueberwindung der gewaltigen deutschen Kraft noch manche
harte Probe auferlegte. Es war nicht Begeisterung, was diese Massen zu¬
sammenbrachte, es war die Furcht vor Gambetta. Die Furcht aber würde
er, trotz seiner wilden und rücksichtslosen Energie, nicht erzeugt haben, wenn
er nicht der anerkannte Mandatar des Pariser Radicalismus gewesen wäre,
wenn nicht der Wille der Hauptstadt seinen Befehlen Nachdruck gegeben hätte.
Er übte seine Dictatur im Namen von Paris aus, und Paris, obwohl ein¬
geschlossen und von jedem regelmäßigen Verkehr mit dem Lande abgeschnitten,
mit jeder Luftballonpost das Land um Hülfe auflesend, beherrschte Frank¬
reich. Paris selbst aber wurde von der arbeitenden Classe beherrscht, welche die
Absetzung des Kaisers erzwungen hatte, und die in Paris zurückgebliebe¬
nen Mitglieder der Negierung vielmehr lenkte, als sie von ihnen gelenkt
wurde. Sie hatte, auch von Gambetta getrennt, die Fühlung mit ihm nicht
verloren. Sie hielt seine Stellung -- nicht selten über seinen Standpunkt
noch hinausgehend -- in Paris aufrecht, während er das Land nach ihren
Grundsätzen bearbeitete.

Die für die Beurtheilung der Parteiverhältniffe während der zweiten Pe¬
riode des Krieges bedeutungsvollen Thatsachen sind also 1) daß die bürger¬
lichen Parteien in allen ihren Schattirungen sich als vollkommen ohnmächtig
bewiesen, 2) daß der Bauernstand, mächtig so lange er durch die vereinten
Kräfte des Bonapartismus und Clerus geleitet wurde, sich völlig passiv und
duldend zeigt, sobald die Einwirkung der beiden Verbündeten aufhört, 3) daß
die großstädtische Demokratie durch ihren Dictator eine fast unbeschränkte Herr¬
schaft über das Land ausübt.

Allerdings wurde der Dictator endlich gestürzt, aber erst dann, als die
Kräfte des Staates in dem Grade gelähmt waren, daß ein längerer Wider¬
stand gegen den auswärtigen Feind zur Unmöglichkeit geworden war. Daß


Ueberraschendes geleistet hat, wird Freund und Feind ihm ohne Bedenken
zugestehen. Wir sagen Ueberraschendes; denn was über die Stimmung des
Landvolkes seit dem Falle von Metz und der Ergebung Bazaines verlautete,
schien die Erwartung zu rechtfertigen, daß die Franzosen, des Widerstandes
müde und von seiner Fruchtlosigkeit überzeugt, die Waffen von sich weisen
würden, die Gambetta's Machtgebote ihnen aufzuzwingen suchten. Dies war
ein Irrthum gewesen; Gambetta's Wille war mächtiger, als die von Tage
zu Tage sich steigernde Friedenssehnsucht, als der gesunde Menschenverstand,
der in jedem neuen Unternehmen nur die Ursache neuer Niederlagen voraus¬
sah. Wie kam, daß dennoch Gambetta stets „unwilligen Muth den zum Tod
Hinwandelnden weckte?" Wie kam, daß Frankreich, in eine große Waffen¬
schmiede verwandelt, Schaaren auf Schaaren zum Kämpfen aussandte, freilich
zuchtlose, ungeübte Schaaren, die ihr Schicksal voraushaben, aber doch unge¬
heure Massen, deren Ueberwindung der gewaltigen deutschen Kraft noch manche
harte Probe auferlegte. Es war nicht Begeisterung, was diese Massen zu¬
sammenbrachte, es war die Furcht vor Gambetta. Die Furcht aber würde
er, trotz seiner wilden und rücksichtslosen Energie, nicht erzeugt haben, wenn
er nicht der anerkannte Mandatar des Pariser Radicalismus gewesen wäre,
wenn nicht der Wille der Hauptstadt seinen Befehlen Nachdruck gegeben hätte.
Er übte seine Dictatur im Namen von Paris aus, und Paris, obwohl ein¬
geschlossen und von jedem regelmäßigen Verkehr mit dem Lande abgeschnitten,
mit jeder Luftballonpost das Land um Hülfe auflesend, beherrschte Frank¬
reich. Paris selbst aber wurde von der arbeitenden Classe beherrscht, welche die
Absetzung des Kaisers erzwungen hatte, und die in Paris zurückgebliebe¬
nen Mitglieder der Negierung vielmehr lenkte, als sie von ihnen gelenkt
wurde. Sie hatte, auch von Gambetta getrennt, die Fühlung mit ihm nicht
verloren. Sie hielt seine Stellung — nicht selten über seinen Standpunkt
noch hinausgehend — in Paris aufrecht, während er das Land nach ihren
Grundsätzen bearbeitete.

Die für die Beurtheilung der Parteiverhältniffe während der zweiten Pe¬
riode des Krieges bedeutungsvollen Thatsachen sind also 1) daß die bürger¬
lichen Parteien in allen ihren Schattirungen sich als vollkommen ohnmächtig
bewiesen, 2) daß der Bauernstand, mächtig so lange er durch die vereinten
Kräfte des Bonapartismus und Clerus geleitet wurde, sich völlig passiv und
duldend zeigt, sobald die Einwirkung der beiden Verbündeten aufhört, 3) daß
die großstädtische Demokratie durch ihren Dictator eine fast unbeschränkte Herr¬
schaft über das Land ausübt.

Allerdings wurde der Dictator endlich gestürzt, aber erst dann, als die
Kräfte des Staates in dem Grade gelähmt waren, daß ein längerer Wider¬
stand gegen den auswärtigen Feind zur Unmöglichkeit geworden war. Daß


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[0339] Ueberraschendes geleistet hat, wird Freund und Feind ihm ohne Bedenken zugestehen. Wir sagen Ueberraschendes; denn was über die Stimmung des Landvolkes seit dem Falle von Metz und der Ergebung Bazaines verlautete, schien die Erwartung zu rechtfertigen, daß die Franzosen, des Widerstandes müde und von seiner Fruchtlosigkeit überzeugt, die Waffen von sich weisen würden, die Gambetta's Machtgebote ihnen aufzuzwingen suchten. Dies war ein Irrthum gewesen; Gambetta's Wille war mächtiger, als die von Tage zu Tage sich steigernde Friedenssehnsucht, als der gesunde Menschenverstand, der in jedem neuen Unternehmen nur die Ursache neuer Niederlagen voraus¬ sah. Wie kam, daß dennoch Gambetta stets „unwilligen Muth den zum Tod Hinwandelnden weckte?" Wie kam, daß Frankreich, in eine große Waffen¬ schmiede verwandelt, Schaaren auf Schaaren zum Kämpfen aussandte, freilich zuchtlose, ungeübte Schaaren, die ihr Schicksal voraushaben, aber doch unge¬ heure Massen, deren Ueberwindung der gewaltigen deutschen Kraft noch manche harte Probe auferlegte. Es war nicht Begeisterung, was diese Massen zu¬ sammenbrachte, es war die Furcht vor Gambetta. Die Furcht aber würde er, trotz seiner wilden und rücksichtslosen Energie, nicht erzeugt haben, wenn er nicht der anerkannte Mandatar des Pariser Radicalismus gewesen wäre, wenn nicht der Wille der Hauptstadt seinen Befehlen Nachdruck gegeben hätte. Er übte seine Dictatur im Namen von Paris aus, und Paris, obwohl ein¬ geschlossen und von jedem regelmäßigen Verkehr mit dem Lande abgeschnitten, mit jeder Luftballonpost das Land um Hülfe auflesend, beherrschte Frank¬ reich. Paris selbst aber wurde von der arbeitenden Classe beherrscht, welche die Absetzung des Kaisers erzwungen hatte, und die in Paris zurückgebliebe¬ nen Mitglieder der Negierung vielmehr lenkte, als sie von ihnen gelenkt wurde. Sie hatte, auch von Gambetta getrennt, die Fühlung mit ihm nicht verloren. Sie hielt seine Stellung — nicht selten über seinen Standpunkt noch hinausgehend — in Paris aufrecht, während er das Land nach ihren Grundsätzen bearbeitete. Die für die Beurtheilung der Parteiverhältniffe während der zweiten Pe¬ riode des Krieges bedeutungsvollen Thatsachen sind also 1) daß die bürger¬ lichen Parteien in allen ihren Schattirungen sich als vollkommen ohnmächtig bewiesen, 2) daß der Bauernstand, mächtig so lange er durch die vereinten Kräfte des Bonapartismus und Clerus geleitet wurde, sich völlig passiv und duldend zeigt, sobald die Einwirkung der beiden Verbündeten aufhört, 3) daß die großstädtische Demokratie durch ihren Dictator eine fast unbeschränkte Herr¬ schaft über das Land ausübt. Allerdings wurde der Dictator endlich gestürzt, aber erst dann, als die Kräfte des Staates in dem Grade gelähmt waren, daß ein längerer Wider¬ stand gegen den auswärtigen Feind zur Unmöglichkeit geworden war. Daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/339>, abgerufen am 24.07.2024.