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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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dem Standpunkte der "praktischen" Gesetzgebung aus bearbeitet und die Rück¬
sicht auf das Ganze des Rechtssystems als unfruchtbare theoretische Specula-
tion gering achtet. Daß daraus der Doctrin Schwierigkeiten erwachsen, daß
die wissenschaftliche Einheit und Symmetrie gestört wird, daß die Theorie
wohl oder übel zu neuen Constructionen gezwungen wird, über das Alles
setzt sich der Gesetzgeber vielleicht ohne Mühe hinweg; obwohl alsdann die
Gerechtigkeit verlangt, daß nicht in einem und demselben Athem wieder der
Theorie Unmögliches aufgebürdet, wissenschaftliche Darstellung und Ausbildung
eines Rechtszustandes, der eine Menge von Specialgesetzen, aber leider sehr
wenig von allgemein gültigen, großen und einfachen Rechtsgrundsätzen ent¬
hält. Aber schlimm ist es, daß auch die praktische Uebung des Rechts zu
Schaden kommen muß, wenn der Rechtszustand durch eine Gesetzgebung, die
nach ihrem eigenen Bekenntniß nur Anläufe, nicht die Durchführung durch¬
schlagender Principien unternimmt, immer mehr mit einer bunten Menge von
Einzelheiten bereichert wird. Was die Erwägungen lehren, welche die Frage
der juristischen Doctrin hervorruft, wird durch die Erwägungen der praktischen
Zuträglichkeit vollkommen bestätigt.

Alles weist uns stets dem einen Ziele zu: sobald als möglich eine thun¬
lichst umfassende Neuordnung auch des Privatrechts. Die Einheit der Gesetz¬
gebung haben wir im Reiche. Mag die Reichsgesetzgebung doch recht sorgen,
daß sie nicht durch den Gebrauch, den sie von ihrer Befugniß macht, indem
sie dem augenblicklichen Bedürfniß zu Liebe mit großer Leichtigkeit sich ent¬
schließt, bald hier, bald da Gesetze über einzelne Gegenstände zu erlassen, die
innere Einheit des Rechts schwer schädigt. Die Gefahr dazu erwächst aus
jedem Specialgesetz, auch dann, wenn in den Motiven und Debatten der
feierliche Vorbehalt erklärt wird , daß den Principien eines demnächstigen
umfassenden Gesetzbuchs kein Präjudiz erwachsen soll.

So lange es so steht, wie es steht, läßt sich der Doctrin nur der gute
Rath geben, die Fortschritte der Gesetzgebung sorgfältig zu verfolgen und sich
so gut als möglich nach ihrer Art damit abzufinden. Der gute Rath aber
erscheint nicht überflüssig. Denn, daß ein Theil der Doctrin geneigt ist, da¬
von wenig Notiz zu nehmen, weiß Jedermann. Einstweilen kann sich an
dem Vereinzelten wenigstens Wissenschaft und Lehre an die Neuerungen ge¬
wöhnen und auf das Bevorstehende vorbereiten.

Die Erkenntniß, daß in kurzer Frist Vieles existiren wird, von dem sich
die Schulweisheit einer hauptsächlich in die Vergangenheit versenkten Theorie
wenig träumen ließ, darf und kann nicht ausbleiben. Nicht Unter- oder
Rückgang der Rechtswissenschaft und Lehre, sondern frische Blüthe, gewonnen
durch die Pflege des nun in thatsächlicher Wirklichkeit nationalen Rechts,


dem Standpunkte der „praktischen" Gesetzgebung aus bearbeitet und die Rück¬
sicht auf das Ganze des Rechtssystems als unfruchtbare theoretische Specula-
tion gering achtet. Daß daraus der Doctrin Schwierigkeiten erwachsen, daß
die wissenschaftliche Einheit und Symmetrie gestört wird, daß die Theorie
wohl oder übel zu neuen Constructionen gezwungen wird, über das Alles
setzt sich der Gesetzgeber vielleicht ohne Mühe hinweg; obwohl alsdann die
Gerechtigkeit verlangt, daß nicht in einem und demselben Athem wieder der
Theorie Unmögliches aufgebürdet, wissenschaftliche Darstellung und Ausbildung
eines Rechtszustandes, der eine Menge von Specialgesetzen, aber leider sehr
wenig von allgemein gültigen, großen und einfachen Rechtsgrundsätzen ent¬
hält. Aber schlimm ist es, daß auch die praktische Uebung des Rechts zu
Schaden kommen muß, wenn der Rechtszustand durch eine Gesetzgebung, die
nach ihrem eigenen Bekenntniß nur Anläufe, nicht die Durchführung durch¬
schlagender Principien unternimmt, immer mehr mit einer bunten Menge von
Einzelheiten bereichert wird. Was die Erwägungen lehren, welche die Frage
der juristischen Doctrin hervorruft, wird durch die Erwägungen der praktischen
Zuträglichkeit vollkommen bestätigt.

Alles weist uns stets dem einen Ziele zu: sobald als möglich eine thun¬
lichst umfassende Neuordnung auch des Privatrechts. Die Einheit der Gesetz¬
gebung haben wir im Reiche. Mag die Reichsgesetzgebung doch recht sorgen,
daß sie nicht durch den Gebrauch, den sie von ihrer Befugniß macht, indem
sie dem augenblicklichen Bedürfniß zu Liebe mit großer Leichtigkeit sich ent¬
schließt, bald hier, bald da Gesetze über einzelne Gegenstände zu erlassen, die
innere Einheit des Rechts schwer schädigt. Die Gefahr dazu erwächst aus
jedem Specialgesetz, auch dann, wenn in den Motiven und Debatten der
feierliche Vorbehalt erklärt wird , daß den Principien eines demnächstigen
umfassenden Gesetzbuchs kein Präjudiz erwachsen soll.

So lange es so steht, wie es steht, läßt sich der Doctrin nur der gute
Rath geben, die Fortschritte der Gesetzgebung sorgfältig zu verfolgen und sich
so gut als möglich nach ihrer Art damit abzufinden. Der gute Rath aber
erscheint nicht überflüssig. Denn, daß ein Theil der Doctrin geneigt ist, da¬
von wenig Notiz zu nehmen, weiß Jedermann. Einstweilen kann sich an
dem Vereinzelten wenigstens Wissenschaft und Lehre an die Neuerungen ge¬
wöhnen und auf das Bevorstehende vorbereiten.

Die Erkenntniß, daß in kurzer Frist Vieles existiren wird, von dem sich
die Schulweisheit einer hauptsächlich in die Vergangenheit versenkten Theorie
wenig träumen ließ, darf und kann nicht ausbleiben. Nicht Unter- oder
Rückgang der Rechtswissenschaft und Lehre, sondern frische Blüthe, gewonnen
durch die Pflege des nun in thatsächlicher Wirklichkeit nationalen Rechts,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/280>, abgerufen am 24.07.2024.