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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Ein glückliches Verhältniß ist kaum denkbar. Die zwei möglichen Even¬
tualitäten Angesichts der Thatsache, daß, nicht etwa nur ein für besondern
subjectiven oder objectiven Umfang gültiges Specialrecht, wie das Handels¬
recht, sondern ein schlechthin für Alle und für Alles gültiges Verkehrs- oder
Obligationenrecht notificirt wurde, sind folgende. Entweder die jetzt bestehende
Vorlesung über das praktische Civilrecht sucht sich des in dem Gesetzbuch ent¬
haltenen Stoffes zu bemächtigen, denselben ihrem Inhalt und System einzu¬
fügen. Aber ist das wirklich thunlich? Kann man daran denken, ein neues,
vermuthlich in vielen Beziehungen sehr neues Obligationenrecht dem Pandek-
ten- oder deutschen Privatrecht, soweit es nicht Obligationenrecht ist, so zu
assimiliren, daß sich der heterogene Stoff zu einer zusammenhängenden Vor¬
lesung des ganzen Civilrechts vereinigen ließe? Bestehen denn nicht tausend
verbindende Fäden zwischen Obligationen-, dinglichen und Personenrecht, ge¬
schweige denn mit dem "allgemeinen Theil," und will nicht vielleicht die neue
Gesetzgebung das alte Obligationenrecht, mit dem solche Beziehungen existirten,
häufig gerade zerstören? Wie sollte da ein Gesammtcivilrecht gelehrt werden
können, das aus einem Mixtum-Compositum von altem dinglichen und Per¬
sonenrecht einerseits und neuem Obligationenrechte andrerseits zusammenge¬
schweißt wäre?

Weit eher wird sich das durch ein Gesetzbuch neugestaltete Obligationen¬
recht für die wissenschaftliche Darstellung und den Unterricht von dem übrigen
Privatrecht abtrennen. Dabei kann das Obligationenrecht sehr wohl bestehen.
Was durch die Trennung Schaden lejden muß, ist der Rest des nunmehr
verstümmelten Civilrechts. Gleichwohl wird nicht anders verfahren werden
können, als daß sich die Theile des Rechts, welche von der Reichsgesetzgebung
einheitlich geregelt werden und von diesem einheitlichen Boden aus einer ganz
anderen Entwickelung entgegengehen, als das nur ideal einheitliche gemeine
und als das ausgesprochen blos particular gültige Recht, sich loslösen und
daß diese Theilung des Rechts für die Rechtsschule aufrechterhalten bleibt;
es sei denn, daß diese nicht nur unerquickliche, sondern ein wahres Uebel an¬
zeigende Erscheinung den Anlaß geben hilft, die Thätigkeit der Gesetzgebung
bis zur Herstellung eines in seinen Grundzügen vollständigen einheitlichen
Civilrechts zu erweitern.

Wir fragen endlich mit Recht, was denn für den Augenblick geschehen
soll, so lange noch keine auch nur theilweise Codification ins Leben gerufen
ist. Noch lebt die Doctrin in voller Sorglosigkeit weiter, als ob sie wenig
von den ihr bevorstehenden Umwälzungen ahnte. Dennoch sind ihr bereits
manche sichtbare Zeichen geschehen. Schon handelt es sich für sie nicht mehr
blos, sich auf das Zukünftige zu rüsten, sondern das Gegenwärtige zu er¬
fassen und zu verarbeiten. Und das sind nicht blos ein paar vereinzelte


Ein glückliches Verhältniß ist kaum denkbar. Die zwei möglichen Even¬
tualitäten Angesichts der Thatsache, daß, nicht etwa nur ein für besondern
subjectiven oder objectiven Umfang gültiges Specialrecht, wie das Handels¬
recht, sondern ein schlechthin für Alle und für Alles gültiges Verkehrs- oder
Obligationenrecht notificirt wurde, sind folgende. Entweder die jetzt bestehende
Vorlesung über das praktische Civilrecht sucht sich des in dem Gesetzbuch ent¬
haltenen Stoffes zu bemächtigen, denselben ihrem Inhalt und System einzu¬
fügen. Aber ist das wirklich thunlich? Kann man daran denken, ein neues,
vermuthlich in vielen Beziehungen sehr neues Obligationenrecht dem Pandek-
ten- oder deutschen Privatrecht, soweit es nicht Obligationenrecht ist, so zu
assimiliren, daß sich der heterogene Stoff zu einer zusammenhängenden Vor¬
lesung des ganzen Civilrechts vereinigen ließe? Bestehen denn nicht tausend
verbindende Fäden zwischen Obligationen-, dinglichen und Personenrecht, ge¬
schweige denn mit dem „allgemeinen Theil," und will nicht vielleicht die neue
Gesetzgebung das alte Obligationenrecht, mit dem solche Beziehungen existirten,
häufig gerade zerstören? Wie sollte da ein Gesammtcivilrecht gelehrt werden
können, das aus einem Mixtum-Compositum von altem dinglichen und Per¬
sonenrecht einerseits und neuem Obligationenrechte andrerseits zusammenge¬
schweißt wäre?

Weit eher wird sich das durch ein Gesetzbuch neugestaltete Obligationen¬
recht für die wissenschaftliche Darstellung und den Unterricht von dem übrigen
Privatrecht abtrennen. Dabei kann das Obligationenrecht sehr wohl bestehen.
Was durch die Trennung Schaden lejden muß, ist der Rest des nunmehr
verstümmelten Civilrechts. Gleichwohl wird nicht anders verfahren werden
können, als daß sich die Theile des Rechts, welche von der Reichsgesetzgebung
einheitlich geregelt werden und von diesem einheitlichen Boden aus einer ganz
anderen Entwickelung entgegengehen, als das nur ideal einheitliche gemeine
und als das ausgesprochen blos particular gültige Recht, sich loslösen und
daß diese Theilung des Rechts für die Rechtsschule aufrechterhalten bleibt;
es sei denn, daß diese nicht nur unerquickliche, sondern ein wahres Uebel an¬
zeigende Erscheinung den Anlaß geben hilft, die Thätigkeit der Gesetzgebung
bis zur Herstellung eines in seinen Grundzügen vollständigen einheitlichen
Civilrechts zu erweitern.

Wir fragen endlich mit Recht, was denn für den Augenblick geschehen
soll, so lange noch keine auch nur theilweise Codification ins Leben gerufen
ist. Noch lebt die Doctrin in voller Sorglosigkeit weiter, als ob sie wenig
von den ihr bevorstehenden Umwälzungen ahnte. Dennoch sind ihr bereits
manche sichtbare Zeichen geschehen. Schon handelt es sich für sie nicht mehr
blos, sich auf das Zukünftige zu rüsten, sondern das Gegenwärtige zu er¬
fassen und zu verarbeiten. Und das sind nicht blos ein paar vereinzelte


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[0278] Ein glückliches Verhältniß ist kaum denkbar. Die zwei möglichen Even¬ tualitäten Angesichts der Thatsache, daß, nicht etwa nur ein für besondern subjectiven oder objectiven Umfang gültiges Specialrecht, wie das Handels¬ recht, sondern ein schlechthin für Alle und für Alles gültiges Verkehrs- oder Obligationenrecht notificirt wurde, sind folgende. Entweder die jetzt bestehende Vorlesung über das praktische Civilrecht sucht sich des in dem Gesetzbuch ent¬ haltenen Stoffes zu bemächtigen, denselben ihrem Inhalt und System einzu¬ fügen. Aber ist das wirklich thunlich? Kann man daran denken, ein neues, vermuthlich in vielen Beziehungen sehr neues Obligationenrecht dem Pandek- ten- oder deutschen Privatrecht, soweit es nicht Obligationenrecht ist, so zu assimiliren, daß sich der heterogene Stoff zu einer zusammenhängenden Vor¬ lesung des ganzen Civilrechts vereinigen ließe? Bestehen denn nicht tausend verbindende Fäden zwischen Obligationen-, dinglichen und Personenrecht, ge¬ schweige denn mit dem „allgemeinen Theil," und will nicht vielleicht die neue Gesetzgebung das alte Obligationenrecht, mit dem solche Beziehungen existirten, häufig gerade zerstören? Wie sollte da ein Gesammtcivilrecht gelehrt werden können, das aus einem Mixtum-Compositum von altem dinglichen und Per¬ sonenrecht einerseits und neuem Obligationenrechte andrerseits zusammenge¬ schweißt wäre? Weit eher wird sich das durch ein Gesetzbuch neugestaltete Obligationen¬ recht für die wissenschaftliche Darstellung und den Unterricht von dem übrigen Privatrecht abtrennen. Dabei kann das Obligationenrecht sehr wohl bestehen. Was durch die Trennung Schaden lejden muß, ist der Rest des nunmehr verstümmelten Civilrechts. Gleichwohl wird nicht anders verfahren werden können, als daß sich die Theile des Rechts, welche von der Reichsgesetzgebung einheitlich geregelt werden und von diesem einheitlichen Boden aus einer ganz anderen Entwickelung entgegengehen, als das nur ideal einheitliche gemeine und als das ausgesprochen blos particular gültige Recht, sich loslösen und daß diese Theilung des Rechts für die Rechtsschule aufrechterhalten bleibt; es sei denn, daß diese nicht nur unerquickliche, sondern ein wahres Uebel an¬ zeigende Erscheinung den Anlaß geben hilft, die Thätigkeit der Gesetzgebung bis zur Herstellung eines in seinen Grundzügen vollständigen einheitlichen Civilrechts zu erweitern. Wir fragen endlich mit Recht, was denn für den Augenblick geschehen soll, so lange noch keine auch nur theilweise Codification ins Leben gerufen ist. Noch lebt die Doctrin in voller Sorglosigkeit weiter, als ob sie wenig von den ihr bevorstehenden Umwälzungen ahnte. Dennoch sind ihr bereits manche sichtbare Zeichen geschehen. Schon handelt es sich für sie nicht mehr blos, sich auf das Zukünftige zu rüsten, sondern das Gegenwärtige zu er¬ fassen und zu verarbeiten. Und das sind nicht blos ein paar vereinzelte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/278>, abgerufen am 25.07.2024.