Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Was zunächst die Lehre vom bürgerlichen Proceß anlangt, so leuchtet
ein, daß auch sie bedeutende Wandlungen erfahren muß. Auf den Univer¬
sitäten wird regelmäßig ein sogenannter gemeiner deutscher Civilproceß vor¬
getragen. Was das ist, läßt sich schwer sagen. Soviel ist gewiß, der echte
gemeine Proceß als praktisch gültiges Verfahren wäre mit einiger Anstrengung
zu suchen. Man würde ihn allenfalls 1866 noch in Reuß älterer Linie, Lippe
oder Holstein gefunden haben-/ aber doch nur als seltene Ausnahme im Ver¬
gleich zu den Gebieten, welche Reformen des bürgerlichen Verfahrens vorge¬
nommen hatten. Der reine alte Grundstock der gemeinen Proeeßlehre besagt
also auch seither schon kaum noch praktische Wahrheit.

Jene Reformen, theils in ganz neuen Proceßordnungen, theils in Pro¬
ceßnovellen enthalten, erweisen sich aber bei näherer Betrachtung überaus
verschieden. Wir haben eine bunte Musterkarte von Proceßrechten, die unter
einander so sehr abweichen, daß in der That eine Concordanz völlig unmög¬
lich wird. Man versuche doch einmal den preußischen Proceß mit dem
hannöverischen, den badischen und den sächsischen zusammen zu stellen.
Man studire doch einmal, wie Sachsen-Weimar einen anderen moäns proes-
äencli hat, als Sachsen-Meiningen, und so fort bis in die kleinsten Theile,
um zu der Erkenntniß zu kommen, daß es eine baare Unmöglichkeit sei, aus
allen den heterogenen Rechtszuständen eine gemeine Doctrin heraus zu ziehen.

Nichtsdestoweniger wird noch heute ein gemeiner Proceß gelehrt, von
dem kühnlich behauptet wird, in ihm spiegle sich noch heute, wie zu Zeiten
des seligen deutschen Reichs, die Rechtsgemeinschaft ganz Deutschlands in
Bezug auf das Verfahren trotz aller particulären Verschiedenheiten. An
dieser blühenden Phantasie wäre an sich wenig gelegen. Man würde der
Doctrin des gemeinen Processes ihren Glauben an sich selbst gönnen, wenn
nicht damit den wißbegierigen Zuhörern Schaden gethan würde.

Entweder wird wirklich schlankweg gemeiner Proceß vorgetragen, ein
Ding, von dem gefragt werden muß, ob es denn in dieser Weise noch
irgendwo existirt, das zum großen Theil, nämlich bis auf denjenigen, welchen
man materielles Proeeßrecht nennt und was allenfalls, aber auch nicht
immer, auch nach den neueren Proceßordnungen Geltung behält, keinen prak¬
tischen Werth hat und jedenfalls dazu angethan ist, dem Lernenden ein
falsches Grundbild des wirklich bestehenden Proceßwesens zu entwerfen. Es
kommt noch täglich vor, daß Nichts von dem alten Quark, der nur noch
als abschreckender Beweis dafür dienen sollte, wie weit sich einst juridischer
Formalismus verirren kann, in dem Rechtsunterricht erspart wird; und so
ist es glücklich dahin gekommen, daß allgemein der Civilproceß in der Meinung
der angehenden Juristen so ziemlich als die langweiligste und unverständlichste
aller Rechtsvorlesungen betrachtet wird.


Was zunächst die Lehre vom bürgerlichen Proceß anlangt, so leuchtet
ein, daß auch sie bedeutende Wandlungen erfahren muß. Auf den Univer¬
sitäten wird regelmäßig ein sogenannter gemeiner deutscher Civilproceß vor¬
getragen. Was das ist, läßt sich schwer sagen. Soviel ist gewiß, der echte
gemeine Proceß als praktisch gültiges Verfahren wäre mit einiger Anstrengung
zu suchen. Man würde ihn allenfalls 1866 noch in Reuß älterer Linie, Lippe
oder Holstein gefunden haben-/ aber doch nur als seltene Ausnahme im Ver¬
gleich zu den Gebieten, welche Reformen des bürgerlichen Verfahrens vorge¬
nommen hatten. Der reine alte Grundstock der gemeinen Proeeßlehre besagt
also auch seither schon kaum noch praktische Wahrheit.

Jene Reformen, theils in ganz neuen Proceßordnungen, theils in Pro¬
ceßnovellen enthalten, erweisen sich aber bei näherer Betrachtung überaus
verschieden. Wir haben eine bunte Musterkarte von Proceßrechten, die unter
einander so sehr abweichen, daß in der That eine Concordanz völlig unmög¬
lich wird. Man versuche doch einmal den preußischen Proceß mit dem
hannöverischen, den badischen und den sächsischen zusammen zu stellen.
Man studire doch einmal, wie Sachsen-Weimar einen anderen moäns proes-
äencli hat, als Sachsen-Meiningen, und so fort bis in die kleinsten Theile,
um zu der Erkenntniß zu kommen, daß es eine baare Unmöglichkeit sei, aus
allen den heterogenen Rechtszuständen eine gemeine Doctrin heraus zu ziehen.

Nichtsdestoweniger wird noch heute ein gemeiner Proceß gelehrt, von
dem kühnlich behauptet wird, in ihm spiegle sich noch heute, wie zu Zeiten
des seligen deutschen Reichs, die Rechtsgemeinschaft ganz Deutschlands in
Bezug auf das Verfahren trotz aller particulären Verschiedenheiten. An
dieser blühenden Phantasie wäre an sich wenig gelegen. Man würde der
Doctrin des gemeinen Processes ihren Glauben an sich selbst gönnen, wenn
nicht damit den wißbegierigen Zuhörern Schaden gethan würde.

Entweder wird wirklich schlankweg gemeiner Proceß vorgetragen, ein
Ding, von dem gefragt werden muß, ob es denn in dieser Weise noch
irgendwo existirt, das zum großen Theil, nämlich bis auf denjenigen, welchen
man materielles Proeeßrecht nennt und was allenfalls, aber auch nicht
immer, auch nach den neueren Proceßordnungen Geltung behält, keinen prak¬
tischen Werth hat und jedenfalls dazu angethan ist, dem Lernenden ein
falsches Grundbild des wirklich bestehenden Proceßwesens zu entwerfen. Es
kommt noch täglich vor, daß Nichts von dem alten Quark, der nur noch
als abschreckender Beweis dafür dienen sollte, wie weit sich einst juridischer
Formalismus verirren kann, in dem Rechtsunterricht erspart wird; und so
ist es glücklich dahin gekommen, daß allgemein der Civilproceß in der Meinung
der angehenden Juristen so ziemlich als die langweiligste und unverständlichste
aller Rechtsvorlesungen betrachtet wird.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126545"/>
          <p xml:id="ID_843"> Was zunächst die Lehre vom bürgerlichen Proceß anlangt, so leuchtet<lb/>
ein, daß auch sie bedeutende Wandlungen erfahren muß. Auf den Univer¬<lb/>
sitäten wird regelmäßig ein sogenannter gemeiner deutscher Civilproceß vor¬<lb/>
getragen. Was das ist, läßt sich schwer sagen. Soviel ist gewiß, der echte<lb/>
gemeine Proceß als praktisch gültiges Verfahren wäre mit einiger Anstrengung<lb/>
zu suchen. Man würde ihn allenfalls 1866 noch in Reuß älterer Linie, Lippe<lb/>
oder Holstein gefunden haben-/ aber doch nur als seltene Ausnahme im Ver¬<lb/>
gleich zu den Gebieten, welche Reformen des bürgerlichen Verfahrens vorge¬<lb/>
nommen hatten. Der reine alte Grundstock der gemeinen Proeeßlehre besagt<lb/>
also auch seither schon kaum noch praktische Wahrheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_844"> Jene Reformen, theils in ganz neuen Proceßordnungen, theils in Pro¬<lb/>
ceßnovellen enthalten, erweisen sich aber bei näherer Betrachtung überaus<lb/>
verschieden. Wir haben eine bunte Musterkarte von Proceßrechten, die unter<lb/>
einander so sehr abweichen, daß in der That eine Concordanz völlig unmög¬<lb/>
lich wird. Man versuche doch einmal den preußischen Proceß mit dem<lb/>
hannöverischen, den badischen und den sächsischen zusammen zu stellen.<lb/>
Man studire doch einmal, wie Sachsen-Weimar einen anderen moäns proes-<lb/>
äencli hat, als Sachsen-Meiningen, und so fort bis in die kleinsten Theile,<lb/>
um zu der Erkenntniß zu kommen, daß es eine baare Unmöglichkeit sei, aus<lb/>
allen den heterogenen Rechtszuständen eine gemeine Doctrin heraus zu ziehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_845"> Nichtsdestoweniger wird noch heute ein gemeiner Proceß gelehrt, von<lb/>
dem kühnlich behauptet wird, in ihm spiegle sich noch heute, wie zu Zeiten<lb/>
des seligen deutschen Reichs, die Rechtsgemeinschaft ganz Deutschlands in<lb/>
Bezug auf das Verfahren trotz aller particulären Verschiedenheiten. An<lb/>
dieser blühenden Phantasie wäre an sich wenig gelegen. Man würde der<lb/>
Doctrin des gemeinen Processes ihren Glauben an sich selbst gönnen, wenn<lb/>
nicht damit den wißbegierigen Zuhörern Schaden gethan würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_846"> Entweder wird wirklich schlankweg gemeiner Proceß vorgetragen, ein<lb/>
Ding, von dem gefragt werden muß, ob es denn in dieser Weise noch<lb/>
irgendwo existirt, das zum großen Theil, nämlich bis auf denjenigen, welchen<lb/>
man materielles Proeeßrecht nennt und was allenfalls, aber auch nicht<lb/>
immer, auch nach den neueren Proceßordnungen Geltung behält, keinen prak¬<lb/>
tischen Werth hat und jedenfalls dazu angethan ist, dem Lernenden ein<lb/>
falsches Grundbild des wirklich bestehenden Proceßwesens zu entwerfen. Es<lb/>
kommt noch täglich vor, daß Nichts von dem alten Quark, der nur noch<lb/>
als abschreckender Beweis dafür dienen sollte, wie weit sich einst juridischer<lb/>
Formalismus verirren kann, in dem Rechtsunterricht erspart wird; und so<lb/>
ist es glücklich dahin gekommen, daß allgemein der Civilproceß in der Meinung<lb/>
der angehenden Juristen so ziemlich als die langweiligste und unverständlichste<lb/>
aller Rechtsvorlesungen betrachtet wird.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0269] Was zunächst die Lehre vom bürgerlichen Proceß anlangt, so leuchtet ein, daß auch sie bedeutende Wandlungen erfahren muß. Auf den Univer¬ sitäten wird regelmäßig ein sogenannter gemeiner deutscher Civilproceß vor¬ getragen. Was das ist, läßt sich schwer sagen. Soviel ist gewiß, der echte gemeine Proceß als praktisch gültiges Verfahren wäre mit einiger Anstrengung zu suchen. Man würde ihn allenfalls 1866 noch in Reuß älterer Linie, Lippe oder Holstein gefunden haben-/ aber doch nur als seltene Ausnahme im Ver¬ gleich zu den Gebieten, welche Reformen des bürgerlichen Verfahrens vorge¬ nommen hatten. Der reine alte Grundstock der gemeinen Proeeßlehre besagt also auch seither schon kaum noch praktische Wahrheit. Jene Reformen, theils in ganz neuen Proceßordnungen, theils in Pro¬ ceßnovellen enthalten, erweisen sich aber bei näherer Betrachtung überaus verschieden. Wir haben eine bunte Musterkarte von Proceßrechten, die unter einander so sehr abweichen, daß in der That eine Concordanz völlig unmög¬ lich wird. Man versuche doch einmal den preußischen Proceß mit dem hannöverischen, den badischen und den sächsischen zusammen zu stellen. Man studire doch einmal, wie Sachsen-Weimar einen anderen moäns proes- äencli hat, als Sachsen-Meiningen, und so fort bis in die kleinsten Theile, um zu der Erkenntniß zu kommen, daß es eine baare Unmöglichkeit sei, aus allen den heterogenen Rechtszuständen eine gemeine Doctrin heraus zu ziehen. Nichtsdestoweniger wird noch heute ein gemeiner Proceß gelehrt, von dem kühnlich behauptet wird, in ihm spiegle sich noch heute, wie zu Zeiten des seligen deutschen Reichs, die Rechtsgemeinschaft ganz Deutschlands in Bezug auf das Verfahren trotz aller particulären Verschiedenheiten. An dieser blühenden Phantasie wäre an sich wenig gelegen. Man würde der Doctrin des gemeinen Processes ihren Glauben an sich selbst gönnen, wenn nicht damit den wißbegierigen Zuhörern Schaden gethan würde. Entweder wird wirklich schlankweg gemeiner Proceß vorgetragen, ein Ding, von dem gefragt werden muß, ob es denn in dieser Weise noch irgendwo existirt, das zum großen Theil, nämlich bis auf denjenigen, welchen man materielles Proeeßrecht nennt und was allenfalls, aber auch nicht immer, auch nach den neueren Proceßordnungen Geltung behält, keinen prak¬ tischen Werth hat und jedenfalls dazu angethan ist, dem Lernenden ein falsches Grundbild des wirklich bestehenden Proceßwesens zu entwerfen. Es kommt noch täglich vor, daß Nichts von dem alten Quark, der nur noch als abschreckender Beweis dafür dienen sollte, wie weit sich einst juridischer Formalismus verirren kann, in dem Rechtsunterricht erspart wird; und so ist es glücklich dahin gekommen, daß allgemein der Civilproceß in der Meinung der angehenden Juristen so ziemlich als die langweiligste und unverständlichste aller Rechtsvorlesungen betrachtet wird.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/269
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/269>, abgerufen am 24.07.2024.