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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Auslands Keenmcht.

Seit seinem ersten Eintreten in die Geschichte Europas hat man niemals
aufgehört, Rußland mit Besorgniß zu betrachten. Sie gründete sich auf zwei
Umstände: erstens auf die gewaltige Massenhaftigkeit des Volksstammes,
welcher ungetheilt ein unbedingt gehorsames Werkzeug in der Hand seiner
Zaren war, also auch jederzeit auf seinen Wink kolossale Heere stellte, wenn
es ihm beliebte die Nachbarvölker zu überfallen; dann aber auf die Fremd¬
artigkeit und Unzugänglichkeit, mit welcher diese Halbslawen der europäischen
Gesittung widerstreben und bei asiatischer Rohheit verharren. General Fade-
jew, für seine Abstammung ungewöhnlich hellsehend und gründlich, hat dieses
Verhältniß seines Vaterlandes zu Europa richtig erkannt; in seinem Werke
über "Rußlands Kriegsmacht und Kriegspolitik"*) äußert er sich darüber:
"Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Westen Europas im Herzen, in der
öffentlichen Stimmung, in der Gesammtheit uns feindlich ist. Nicht in diesem
oder jenem System der russischen Regierung hat diese Feindschaft ihren Grund,
sondern im Wesen der Dinge selbst, im Mißtrauen gegen das neue, fremde,
allzu zahlreiche, plötzlich an der Grenze Europas erschienene Volk, mit seinem
den Ueberlieferungen des Westens fremden, unermeßlichen Reiche, wo viele so¬
ciale Cardinalfragen anders als dort aufgefaßt werden, wo die ganze Masse
des Volks Land besitzt, wo eine Religion bekannt wird, welche dem Papstthum
hundert mal mehr gefährlich ist, als selbst der Protestantismus, eine Religion,
welche gleichzeitig diesen und jenes negirt. . . . Was wir auch thun mögen
niemals werden wir das halb feudale und halb revolutionäre Europa dazu
bringen, aufrichtig Jemand als Seinesgleichen anzuerkennen, der ihm fremd
ist von der Wiege an. Was wir auch thun mögen, niemals werden wir den
Glauben an das Europa erschreckende Gespenst tilgen, und zwar aus dem
einfachen Grunde nicht, weil wir jeden Tag mächtig wachsen und uns selbst
noch nicht kennen, weil wir ganz unmöglich weder für uns selbst, noch um
so weniger für unsere Kinder dafür einstehen können, wie wir nach einigen
Jahren über Slawenthum und Rechtgläubigkeit denken werden."

Wir halten uns nicht mit der Berichtigung einzelner nebensächlicher Aus"



*) Übersetzt von Jul. Eckardt. Leipzig, F. A. Blockhaus.
Grmzlwlcn II. 1871.:;i
Auslands Keenmcht.

Seit seinem ersten Eintreten in die Geschichte Europas hat man niemals
aufgehört, Rußland mit Besorgniß zu betrachten. Sie gründete sich auf zwei
Umstände: erstens auf die gewaltige Massenhaftigkeit des Volksstammes,
welcher ungetheilt ein unbedingt gehorsames Werkzeug in der Hand seiner
Zaren war, also auch jederzeit auf seinen Wink kolossale Heere stellte, wenn
es ihm beliebte die Nachbarvölker zu überfallen; dann aber auf die Fremd¬
artigkeit und Unzugänglichkeit, mit welcher diese Halbslawen der europäischen
Gesittung widerstreben und bei asiatischer Rohheit verharren. General Fade-
jew, für seine Abstammung ungewöhnlich hellsehend und gründlich, hat dieses
Verhältniß seines Vaterlandes zu Europa richtig erkannt; in seinem Werke
über „Rußlands Kriegsmacht und Kriegspolitik"*) äußert er sich darüber:
„Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Westen Europas im Herzen, in der
öffentlichen Stimmung, in der Gesammtheit uns feindlich ist. Nicht in diesem
oder jenem System der russischen Regierung hat diese Feindschaft ihren Grund,
sondern im Wesen der Dinge selbst, im Mißtrauen gegen das neue, fremde,
allzu zahlreiche, plötzlich an der Grenze Europas erschienene Volk, mit seinem
den Ueberlieferungen des Westens fremden, unermeßlichen Reiche, wo viele so¬
ciale Cardinalfragen anders als dort aufgefaßt werden, wo die ganze Masse
des Volks Land besitzt, wo eine Religion bekannt wird, welche dem Papstthum
hundert mal mehr gefährlich ist, als selbst der Protestantismus, eine Religion,
welche gleichzeitig diesen und jenes negirt. . . . Was wir auch thun mögen
niemals werden wir das halb feudale und halb revolutionäre Europa dazu
bringen, aufrichtig Jemand als Seinesgleichen anzuerkennen, der ihm fremd
ist von der Wiege an. Was wir auch thun mögen, niemals werden wir den
Glauben an das Europa erschreckende Gespenst tilgen, und zwar aus dem
einfachen Grunde nicht, weil wir jeden Tag mächtig wachsen und uns selbst
noch nicht kennen, weil wir ganz unmöglich weder für uns selbst, noch um
so weniger für unsere Kinder dafür einstehen können, wie wir nach einigen
Jahren über Slawenthum und Rechtgläubigkeit denken werden."

Wir halten uns nicht mit der Berichtigung einzelner nebensächlicher Aus«



*) Übersetzt von Jul. Eckardt. Leipzig, F. A. Blockhaus.
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[0249] Auslands Keenmcht. Seit seinem ersten Eintreten in die Geschichte Europas hat man niemals aufgehört, Rußland mit Besorgniß zu betrachten. Sie gründete sich auf zwei Umstände: erstens auf die gewaltige Massenhaftigkeit des Volksstammes, welcher ungetheilt ein unbedingt gehorsames Werkzeug in der Hand seiner Zaren war, also auch jederzeit auf seinen Wink kolossale Heere stellte, wenn es ihm beliebte die Nachbarvölker zu überfallen; dann aber auf die Fremd¬ artigkeit und Unzugänglichkeit, mit welcher diese Halbslawen der europäischen Gesittung widerstreben und bei asiatischer Rohheit verharren. General Fade- jew, für seine Abstammung ungewöhnlich hellsehend und gründlich, hat dieses Verhältniß seines Vaterlandes zu Europa richtig erkannt; in seinem Werke über „Rußlands Kriegsmacht und Kriegspolitik"*) äußert er sich darüber: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Westen Europas im Herzen, in der öffentlichen Stimmung, in der Gesammtheit uns feindlich ist. Nicht in diesem oder jenem System der russischen Regierung hat diese Feindschaft ihren Grund, sondern im Wesen der Dinge selbst, im Mißtrauen gegen das neue, fremde, allzu zahlreiche, plötzlich an der Grenze Europas erschienene Volk, mit seinem den Ueberlieferungen des Westens fremden, unermeßlichen Reiche, wo viele so¬ ciale Cardinalfragen anders als dort aufgefaßt werden, wo die ganze Masse des Volks Land besitzt, wo eine Religion bekannt wird, welche dem Papstthum hundert mal mehr gefährlich ist, als selbst der Protestantismus, eine Religion, welche gleichzeitig diesen und jenes negirt. . . . Was wir auch thun mögen niemals werden wir das halb feudale und halb revolutionäre Europa dazu bringen, aufrichtig Jemand als Seinesgleichen anzuerkennen, der ihm fremd ist von der Wiege an. Was wir auch thun mögen, niemals werden wir den Glauben an das Europa erschreckende Gespenst tilgen, und zwar aus dem einfachen Grunde nicht, weil wir jeden Tag mächtig wachsen und uns selbst noch nicht kennen, weil wir ganz unmöglich weder für uns selbst, noch um so weniger für unsere Kinder dafür einstehen können, wie wir nach einigen Jahren über Slawenthum und Rechtgläubigkeit denken werden." Wir halten uns nicht mit der Berichtigung einzelner nebensächlicher Aus« *) Übersetzt von Jul. Eckardt. Leipzig, F. A. Blockhaus. Grmzlwlcn II. 1871.:;i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/249>, abgerufen am 24.07.2024.