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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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mung von gänzlich lebensunfähigem Organen für die Staatsthätigkeit die
ihren ferneren Functionen entsprechenden Einrichtungen geschaffen werden,
wodurch es allein möglich fein wird, eine selbständige Entwickelung unseres
Stammeslebens für die Zukunft zu erhalten.

Vor allem gehört dahin die Revision der Verfassung, welche, seit mehr
als 20 Jahren der Zankapfel der Parteien, vor dem Jahr 1870 zu einer be¬
friedigenden Lösung nicht gebracht werden konnte. Ganz anders sind dagegen
die Verhältnisse jetzt. Das Zweikammersystem hat mit dem Eintritt in das
Reich seine Berechtigung verloren. Die conservativen Interessen finden jetzt
im Reichstag und Bundesrath eine viel wirksamere Und befähigtere Vertretung
als in unserer bisherigen, auf dem veralteten Princip der Stimmübertragung
beruhenden I. Kammer. Sah sich doch die Regierung seit langen Jahren
genöthigt, um das ganze Institut vor größerer Blosstellung zu bewahren,
die wenigen lebenslänglichen Pairsstellen, über welche sie verfassungsmäßig
verfügt, durch höhere Beamte aus sämmtlichen Departements so zu besetzen,
daß für jedes Departement wenigstens e i n Referent vorhanden ist, da andern¬
falls die Commissionsberichte nicht zu Stande kämen oder auf den Domanial-
kanzleien ausgearbeitet werden müßten. Ebenso dürfte eine Reduction des
Abgeordnetenhauses nicht zu umgehen sein, da, von den Privilegien des Adels
und der Geistlichkeit abgesehen, die Zahl von 93 Mitgliedern für ein Land
von l^/j Millionen Einwohner viel zu groß ist, und es selbst bei einer Herab¬
setzung jener Zahl auf die Hälfte noch schwer genug fallen wird, die genü¬
gende Anzahl ihrer Aufgabe gewachsener Männer herauszufinden. Ebenso
ist der ständische Ausschuß zur Vertretung der Stände während ihrer Ver¬
tagung ein längst überlebtes Institut, welches bisher für eine wirksame Con¬
trols der Staatsverwaltung nicht das Geringste zu leisten vermochte.

Auch der Geheimerath als vermittelndes Organ zwischen Ministerium
und König für die Begutachtung von Gesetzen ist, von den constitutionellen
Bedenken gegen ein solches Institut ganz abgesehen, in der letzten Zeit völlig
unhaltbar geworden. Seitdem nämlich -- mit dem Regierungsantritt des
jetzigen Königs -- den Ministern gestattet wurde, Mandate in die Stände¬
kammer anzunehmen, wurde es denselben -- namentlich durch die Einwirkung
auf die ständischen Commissionen leicht, die ihnen mißliebigen Aenderungen an
ihren Gesetzesvorlagen von Seiten des Geheimenraths durch die Ständekam¬
mer, nicht immer zur Förderung des Ansehens der Staatsregierung, wieder
beseitigen zu lassen, womit das ganze Institut illusorisch wurde. Die drin¬
gendste Forderung aber ist die gänzliche Beseitigung des Departements der
auswärtigen Angelegenheiten. Daß dieselbe möglich ist, hat so eben Baden
gezeigt. Sie ist aber, auch vom nationalen Standpunkt ganz abgesehen,
schon durch die Leistungsunfähigkeit unserer Diplomatie geboten. Wir er-


mung von gänzlich lebensunfähigem Organen für die Staatsthätigkeit die
ihren ferneren Functionen entsprechenden Einrichtungen geschaffen werden,
wodurch es allein möglich fein wird, eine selbständige Entwickelung unseres
Stammeslebens für die Zukunft zu erhalten.

Vor allem gehört dahin die Revision der Verfassung, welche, seit mehr
als 20 Jahren der Zankapfel der Parteien, vor dem Jahr 1870 zu einer be¬
friedigenden Lösung nicht gebracht werden konnte. Ganz anders sind dagegen
die Verhältnisse jetzt. Das Zweikammersystem hat mit dem Eintritt in das
Reich seine Berechtigung verloren. Die conservativen Interessen finden jetzt
im Reichstag und Bundesrath eine viel wirksamere Und befähigtere Vertretung
als in unserer bisherigen, auf dem veralteten Princip der Stimmübertragung
beruhenden I. Kammer. Sah sich doch die Regierung seit langen Jahren
genöthigt, um das ganze Institut vor größerer Blosstellung zu bewahren,
die wenigen lebenslänglichen Pairsstellen, über welche sie verfassungsmäßig
verfügt, durch höhere Beamte aus sämmtlichen Departements so zu besetzen,
daß für jedes Departement wenigstens e i n Referent vorhanden ist, da andern¬
falls die Commissionsberichte nicht zu Stande kämen oder auf den Domanial-
kanzleien ausgearbeitet werden müßten. Ebenso dürfte eine Reduction des
Abgeordnetenhauses nicht zu umgehen sein, da, von den Privilegien des Adels
und der Geistlichkeit abgesehen, die Zahl von 93 Mitgliedern für ein Land
von l^/j Millionen Einwohner viel zu groß ist, und es selbst bei einer Herab¬
setzung jener Zahl auf die Hälfte noch schwer genug fallen wird, die genü¬
gende Anzahl ihrer Aufgabe gewachsener Männer herauszufinden. Ebenso
ist der ständische Ausschuß zur Vertretung der Stände während ihrer Ver¬
tagung ein längst überlebtes Institut, welches bisher für eine wirksame Con¬
trols der Staatsverwaltung nicht das Geringste zu leisten vermochte.

Auch der Geheimerath als vermittelndes Organ zwischen Ministerium
und König für die Begutachtung von Gesetzen ist, von den constitutionellen
Bedenken gegen ein solches Institut ganz abgesehen, in der letzten Zeit völlig
unhaltbar geworden. Seitdem nämlich — mit dem Regierungsantritt des
jetzigen Königs — den Ministern gestattet wurde, Mandate in die Stände¬
kammer anzunehmen, wurde es denselben — namentlich durch die Einwirkung
auf die ständischen Commissionen leicht, die ihnen mißliebigen Aenderungen an
ihren Gesetzesvorlagen von Seiten des Geheimenraths durch die Ständekam¬
mer, nicht immer zur Förderung des Ansehens der Staatsregierung, wieder
beseitigen zu lassen, womit das ganze Institut illusorisch wurde. Die drin¬
gendste Forderung aber ist die gänzliche Beseitigung des Departements der
auswärtigen Angelegenheiten. Daß dieselbe möglich ist, hat so eben Baden
gezeigt. Sie ist aber, auch vom nationalen Standpunkt ganz abgesehen,
schon durch die Leistungsunfähigkeit unserer Diplomatie geboten. Wir er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/235>, abgerufen am 24.07.2024.