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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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gemacht, auf welchem man die Thatsachen willkührlich auseinanderzerrt oder
verstümmelt, -- was man "construiren" nennt. Letztere Methode, zu welcher
Schäffle neigt, ist Oppenheim vollständig fremd. Vor ihr schützt ihn schon
die streng wissenschaftliche Schule, welche er auf den Gebieten des Völker-,
Staats- und Privatrechts, der Culturgeschichte. Philosophie und Volkswirth¬
schaft durchgemacht, und die reichen Detail-Kenntnisse und praktischen An¬
schauungen, welche er in Deutschlands verschiedenen Stämmen und Landen,
sowie in England und Frankreich an Ort und Stelle in Bezug auf Land
und Leute, Geschichte und Literatur gesammelt hat. Eines Studiums der
Gesetze, nach welchen sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht, können wir
aber nicht entrathen, wenn wir uns nicht dem Ausspruch des Grafen av
Natstre unterwerfen wollen, welcher unsere Geschichte für "ein fortgesetztes
Gemetzel", oder für ein Gewebe von Trug und Verrath, List und Gewalt
erklärt; ("I/KistoirL nu Zenro Kumain rssseindlk A, un iwinenss edamx
<Ze earnÄM").

Jene Aufsätze bilden den ersten Theil des Buches unter dem Titel
"auf dem Wege zur deutschen Einheit". Der zweite faßt unter dem
Collektivtitel "Studien und Kritiken" zwei Abhandlungen "Ueber Ar¬
menpflege und Heimathrecht" und "Zur Arbeiterfrage", dann zwei literarische
Charakterbilder "Carl Tochter (der Abgeordnete) als Schriftsteller" und
"Wilhelm von Humboldt als theoretischer Politiker", und endlich eine tief¬
greifende Studie "Ueber constitutionelle Moral und Sitte", zusammen.

Oppenheim ist im Gegensatze zu Schäffle, welcher Angesichts der großen
Entwickelung, die sich in seinem Vaterlande so glücklich vollzogen, den Stand¬
punct einen feindseligen und gehässigen Reaction oder wenigstens dem einer
mißmuthig antipathischen Nörgelei einnimmt, mit voller Seele bei den Schick¬
sale seines Volkes, ohne daß ihn dabei auch nur einen Augenblick der leben¬
dige Geist einer scharfen Kritik verläßt. Während Schäffle das deutsche Bürger-
thum im verdrießlichsten Schulmeister-Tone zurechtweist und mit dem
vornehmen und gemeinen Proletariat kokettirt, faßt Oppenheim mit freudigem
Vertrauen auf die Zukunft seines Landes und Volkes das Ganze in's Auge
und spricht im Einzelnen Lob und Tadel aus nach allen Seiten, die seines
Erachtens dergleichen verdienen.

Oppenheim zwingt uns, mit ihm zu denken und zu fühlen, und wir
legen sein Buch nie ohne geistigen Gewinn und guten Vorsatz zur Seite.
Schäffle zwingt uns nur, den großen Aufwand an Geist, den er ohne Er¬
gebniß vergeudet, zu bewundern und zu bedauern; und wir beendigen das
Studium des dickleibigen Werkes gerade fo verdrießlich, wie er selber zu
sein scheint, mit dem Worten "xarwriunt montes, naseetur riäieuws must"




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gemacht, auf welchem man die Thatsachen willkührlich auseinanderzerrt oder
verstümmelt, — was man „construiren" nennt. Letztere Methode, zu welcher
Schäffle neigt, ist Oppenheim vollständig fremd. Vor ihr schützt ihn schon
die streng wissenschaftliche Schule, welche er auf den Gebieten des Völker-,
Staats- und Privatrechts, der Culturgeschichte. Philosophie und Volkswirth¬
schaft durchgemacht, und die reichen Detail-Kenntnisse und praktischen An¬
schauungen, welche er in Deutschlands verschiedenen Stämmen und Landen,
sowie in England und Frankreich an Ort und Stelle in Bezug auf Land
und Leute, Geschichte und Literatur gesammelt hat. Eines Studiums der
Gesetze, nach welchen sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht, können wir
aber nicht entrathen, wenn wir uns nicht dem Ausspruch des Grafen av
Natstre unterwerfen wollen, welcher unsere Geschichte für „ein fortgesetztes
Gemetzel", oder für ein Gewebe von Trug und Verrath, List und Gewalt
erklärt; („I/KistoirL nu Zenro Kumain rssseindlk A, un iwinenss edamx
<Ze earnÄM").

Jene Aufsätze bilden den ersten Theil des Buches unter dem Titel
„auf dem Wege zur deutschen Einheit". Der zweite faßt unter dem
Collektivtitel „Studien und Kritiken" zwei Abhandlungen „Ueber Ar¬
menpflege und Heimathrecht" und „Zur Arbeiterfrage", dann zwei literarische
Charakterbilder „Carl Tochter (der Abgeordnete) als Schriftsteller" und
„Wilhelm von Humboldt als theoretischer Politiker", und endlich eine tief¬
greifende Studie „Ueber constitutionelle Moral und Sitte", zusammen.

Oppenheim ist im Gegensatze zu Schäffle, welcher Angesichts der großen
Entwickelung, die sich in seinem Vaterlande so glücklich vollzogen, den Stand¬
punct einen feindseligen und gehässigen Reaction oder wenigstens dem einer
mißmuthig antipathischen Nörgelei einnimmt, mit voller Seele bei den Schick¬
sale seines Volkes, ohne daß ihn dabei auch nur einen Augenblick der leben¬
dige Geist einer scharfen Kritik verläßt. Während Schäffle das deutsche Bürger-
thum im verdrießlichsten Schulmeister-Tone zurechtweist und mit dem
vornehmen und gemeinen Proletariat kokettirt, faßt Oppenheim mit freudigem
Vertrauen auf die Zukunft seines Landes und Volkes das Ganze in's Auge
und spricht im Einzelnen Lob und Tadel aus nach allen Seiten, die seines
Erachtens dergleichen verdienen.

Oppenheim zwingt uns, mit ihm zu denken und zu fühlen, und wir
legen sein Buch nie ohne geistigen Gewinn und guten Vorsatz zur Seite.
Schäffle zwingt uns nur, den großen Aufwand an Geist, den er ohne Er¬
gebniß vergeudet, zu bewundern und zu bedauern; und wir beendigen das
Studium des dickleibigen Werkes gerade fo verdrießlich, wie er selber zu
sein scheint, mit dem Worten „xarwriunt montes, naseetur riäieuws must"




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/233>, abgerufen am 24.07.2024.