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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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directen Steuern und bessere Ausbildung des Systems der directen
Steuern.

Das ist ewig die alte Geschichte. Der Dorf-Chirurg, welcher seinen Pa¬
tienten nicht zu helfen wußte, tröstete sie mit der Redensart: "Nur Geduld,
sobald nur die Dolores cessiren, werden ja auch die Schmerzen aufhören;"
und in dem unsterblichen Werke von Fritz Reuter "Ut mine Stromtid" macht
der Entspector Bräsig die große Entdeckung, "die alleinige und wahre Ursache
der Massenarmuth bestehe in der allgemeinen Pauvretv." Schäffle's Vorschlag
läßt sich viel erschöpfender so formuliren: "Man entferne alle Armuth und
alles Elend aus der Welt und mache sofort alle Menschen reich und klug,
glücklich und zufrieden. Dann hat man von dem Socialismus nichts zu be¬
fürchten. ?l'vbalum est.

Solche Arzneien sind leicht verschrieben, aber schwer gemacht. Da indeß
Herr Schaffte nunmehr in den Besitz einer Apotheke gelangt, d. h. da er nun
als Minister an der Spitze eines großen Staatswesens steht, so werden wir
abwarten, ob er als Apotheker die Arzneien zu bereiten versteht, welche er
als Doctor verschrieben hat. Bis jetzt hat man noch nichts davon vernom¬
men, daß Herr Schaffte in Oestreich die Staatsanlehen, die indirecten Steuern
und die stehenden Heere abgeschafft hat; vielmehr will er die Cavallerie ver¬
mehren. Aber es wird wohl noch kommen, und bis dahin daß es kommt,
wäre es wohl indicirt, daß Herr Schäffle von Preußen und Deutschland und
deren Staatsmännern in einem etwas moderirteren und bescheideneren Tone
spräche, als es in seinem dicken Buche geschieht, worin er jede Gelegenheit an
den Haaren herbeizieht, um die Phrasen seines Ulmer Wahlmanifestes zu
wiederholen, -- Phrasen, welche ja damals, 1868, dort recht zweckmäßig und
effectreich waren, heut zu Tage aber überall, und auch in Württemberg, für
abgedroschen, unwahr und geschmacklos gelten.

Was die Deductionen Schäffle's anlangt, so leiden sie meistens an jener
veralteten wissenschaftlichen Methode, welche ehedem in Deutschland allgemein
herrschte, neuerdings jedoch immer mehr in Abnahme kommt. Herr Schäffle
bedient sich nämlich zum Zwecke des Gedanken-Ausdrucks nicht der deutschen
Sprache, sondern eines eigenthümlichen Idioms, das man nicht anders be¬
zeichnen kann, wie als "die Sprache Schäffle." Er folgt darin dem Bei¬
spiel eines großen Unbekannten, eines Schriftstellers, welchen er hochverehrt
und der unter dem Namen "Mario" schreibt, in Wirklichkeit aber den etwas
verständlicheren und bezeichnenden Namen Winkelblech führt. Das würde
man sich heute nicht einmal mehr von Hegel gefallen lassen, geschweige denn
von Mario und Schäffle.

Wie Mario den "Föderalismus," so hat Schäffle den "Capitalismus"
erfunden. Leider sagen uns die beiden Herren Erfinder nicht deutlich, was


directen Steuern und bessere Ausbildung des Systems der directen
Steuern.

Das ist ewig die alte Geschichte. Der Dorf-Chirurg, welcher seinen Pa¬
tienten nicht zu helfen wußte, tröstete sie mit der Redensart: „Nur Geduld,
sobald nur die Dolores cessiren, werden ja auch die Schmerzen aufhören;"
und in dem unsterblichen Werke von Fritz Reuter „Ut mine Stromtid" macht
der Entspector Bräsig die große Entdeckung, „die alleinige und wahre Ursache
der Massenarmuth bestehe in der allgemeinen Pauvretv." Schäffle's Vorschlag
läßt sich viel erschöpfender so formuliren: „Man entferne alle Armuth und
alles Elend aus der Welt und mache sofort alle Menschen reich und klug,
glücklich und zufrieden. Dann hat man von dem Socialismus nichts zu be¬
fürchten. ?l'vbalum est.

Solche Arzneien sind leicht verschrieben, aber schwer gemacht. Da indeß
Herr Schaffte nunmehr in den Besitz einer Apotheke gelangt, d. h. da er nun
als Minister an der Spitze eines großen Staatswesens steht, so werden wir
abwarten, ob er als Apotheker die Arzneien zu bereiten versteht, welche er
als Doctor verschrieben hat. Bis jetzt hat man noch nichts davon vernom¬
men, daß Herr Schaffte in Oestreich die Staatsanlehen, die indirecten Steuern
und die stehenden Heere abgeschafft hat; vielmehr will er die Cavallerie ver¬
mehren. Aber es wird wohl noch kommen, und bis dahin daß es kommt,
wäre es wohl indicirt, daß Herr Schäffle von Preußen und Deutschland und
deren Staatsmännern in einem etwas moderirteren und bescheideneren Tone
spräche, als es in seinem dicken Buche geschieht, worin er jede Gelegenheit an
den Haaren herbeizieht, um die Phrasen seines Ulmer Wahlmanifestes zu
wiederholen, — Phrasen, welche ja damals, 1868, dort recht zweckmäßig und
effectreich waren, heut zu Tage aber überall, und auch in Württemberg, für
abgedroschen, unwahr und geschmacklos gelten.

Was die Deductionen Schäffle's anlangt, so leiden sie meistens an jener
veralteten wissenschaftlichen Methode, welche ehedem in Deutschland allgemein
herrschte, neuerdings jedoch immer mehr in Abnahme kommt. Herr Schäffle
bedient sich nämlich zum Zwecke des Gedanken-Ausdrucks nicht der deutschen
Sprache, sondern eines eigenthümlichen Idioms, das man nicht anders be¬
zeichnen kann, wie als „die Sprache Schäffle." Er folgt darin dem Bei¬
spiel eines großen Unbekannten, eines Schriftstellers, welchen er hochverehrt
und der unter dem Namen „Mario" schreibt, in Wirklichkeit aber den etwas
verständlicheren und bezeichnenden Namen Winkelblech führt. Das würde
man sich heute nicht einmal mehr von Hegel gefallen lassen, geschweige denn
von Mario und Schäffle.

Wie Mario den „Föderalismus," so hat Schäffle den „Capitalismus"
erfunden. Leider sagen uns die beiden Herren Erfinder nicht deutlich, was


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[0226] directen Steuern und bessere Ausbildung des Systems der directen Steuern. Das ist ewig die alte Geschichte. Der Dorf-Chirurg, welcher seinen Pa¬ tienten nicht zu helfen wußte, tröstete sie mit der Redensart: „Nur Geduld, sobald nur die Dolores cessiren, werden ja auch die Schmerzen aufhören;" und in dem unsterblichen Werke von Fritz Reuter „Ut mine Stromtid" macht der Entspector Bräsig die große Entdeckung, „die alleinige und wahre Ursache der Massenarmuth bestehe in der allgemeinen Pauvretv." Schäffle's Vorschlag läßt sich viel erschöpfender so formuliren: „Man entferne alle Armuth und alles Elend aus der Welt und mache sofort alle Menschen reich und klug, glücklich und zufrieden. Dann hat man von dem Socialismus nichts zu be¬ fürchten. ?l'vbalum est. Solche Arzneien sind leicht verschrieben, aber schwer gemacht. Da indeß Herr Schaffte nunmehr in den Besitz einer Apotheke gelangt, d. h. da er nun als Minister an der Spitze eines großen Staatswesens steht, so werden wir abwarten, ob er als Apotheker die Arzneien zu bereiten versteht, welche er als Doctor verschrieben hat. Bis jetzt hat man noch nichts davon vernom¬ men, daß Herr Schaffte in Oestreich die Staatsanlehen, die indirecten Steuern und die stehenden Heere abgeschafft hat; vielmehr will er die Cavallerie ver¬ mehren. Aber es wird wohl noch kommen, und bis dahin daß es kommt, wäre es wohl indicirt, daß Herr Schäffle von Preußen und Deutschland und deren Staatsmännern in einem etwas moderirteren und bescheideneren Tone spräche, als es in seinem dicken Buche geschieht, worin er jede Gelegenheit an den Haaren herbeizieht, um die Phrasen seines Ulmer Wahlmanifestes zu wiederholen, — Phrasen, welche ja damals, 1868, dort recht zweckmäßig und effectreich waren, heut zu Tage aber überall, und auch in Württemberg, für abgedroschen, unwahr und geschmacklos gelten. Was die Deductionen Schäffle's anlangt, so leiden sie meistens an jener veralteten wissenschaftlichen Methode, welche ehedem in Deutschland allgemein herrschte, neuerdings jedoch immer mehr in Abnahme kommt. Herr Schäffle bedient sich nämlich zum Zwecke des Gedanken-Ausdrucks nicht der deutschen Sprache, sondern eines eigenthümlichen Idioms, das man nicht anders be¬ zeichnen kann, wie als „die Sprache Schäffle." Er folgt darin dem Bei¬ spiel eines großen Unbekannten, eines Schriftstellers, welchen er hochverehrt und der unter dem Namen „Mario" schreibt, in Wirklichkeit aber den etwas verständlicheren und bezeichnenden Namen Winkelblech führt. Das würde man sich heute nicht einmal mehr von Hegel gefallen lassen, geschweige denn von Mario und Schäffle. Wie Mario den „Föderalismus," so hat Schäffle den „Capitalismus" erfunden. Leider sagen uns die beiden Herren Erfinder nicht deutlich, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/226>, abgerufen am 24.07.2024.