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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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manu weiß und Mancher bedauert, noch nicht gekommen. Die Schwierig¬
keiten brauchen nicht auseinander gesetzt zu werden. Zum Theil lagen sie
ohne Zweifel mit in dem Mangel eines einheitlichen Strafrechts. Aus den
so und soviel untereinander in tausend Puncten abweichenden Particularge-
setzvüchern eine wesentliche Strafrechtslehre herauszudestilliren und in ihrer
inneren Nothwendigkeit zu begründen, war gewiß ein doppelt schweres Stück
Arbeit. Allein das war und ist doch nicht die einzige Schwierigkeit und die
Hauptsache bleibt immer, daß für die wissenschaftlich überzeugende Entwick¬
lung der aus der modernen Gesetzgebung geschöpften Lehre ganz andere Fun¬
damente nöthig sind, als sie die alte scholastische oder philosophische Schule
zu brauchen nöthig fand.

Mag indessen die Aufgabe noch so schwierig sein, sie bleibt bestehen und
muß erfüllt werden, wenn die Lehre vom Strafrecht die volle Höhe echter
Wissenschaft halten will. Sie hat es jetzt mit dem gemeinsamen Strafcodex
des Reiches zu thun. Dadurch wesentlich erleichtert, wird die Aufgabe um
so lockender. Es kann nicht unsere Absicht sein, der neu zu begründenden,
auf dem sichern Boden einheitlicher Gesetzgebung stehenden Wissenschaft und
Lehre hier die Wege vorzuzeichnen. Aber wir fordern, daß auch dies einheit¬
liche Strafrecht nicht als eine todte Menge positiver Regeln gelehrt, sondern
daß den Lernenden schon auf der Universität das innere Verständniß der
Materie eröffnet und selbst die kritische Beherrschung derselben ermöglicht
werde. Und dazu gehört Eines, was hervorgehoben werden muß, weil darin
unzweifelhaft der Wissenschaft ein weites Feld voll reicher Ausbeute sich aus¬
schließt, die mehr zu der wahren Begründung der Lehre beiträgt, als all die
doctrinell juridische und philosophische Begründung, mit der man früher zu
operiren gewohnt war. Die juristische Wissenschaft muß den Zusammenhang
der Strafgesetze mit dem politischen und socialen, mit dem geistigen und
wirthschaftlichen Leben der Völker aufdecken. Kein anderer Zweig des Rechts
redet deutlicher als Ausdruck des jeweiligen Culturzustandes, wie das Straf¬
recht. Diesen Gedanken durchzuführen, wäre eine wahrhaft große Aufgabe
der theoretischen Forschung. In ihm liegt die echte Begründung der neuen
und nationalen Strafrechtswissenschaft. Eine Lehre, von diesem Gedanken
erfüllt, wird die sichere Ueberzeugung von dem geben, was an dem positiven
Gesetz wahr und bleibend, oder nur vorübergehend oder unwahr ist.

Mit dem Strafproceßrecht wird es in Kurzem eben so aussehen, wie
mit dem Strafrecht. Eine einheitliche Strafproceßordnung des Reichs steht
nahe bevor und auch von der Lehre, die sich mit diesem Gegenstande befaßt,
gelten die gleichen Betrachtungen, zu denen die Lage der Strafrechtsdisciplin
auffordert. (Schluß folgt.)




manu weiß und Mancher bedauert, noch nicht gekommen. Die Schwierig¬
keiten brauchen nicht auseinander gesetzt zu werden. Zum Theil lagen sie
ohne Zweifel mit in dem Mangel eines einheitlichen Strafrechts. Aus den
so und soviel untereinander in tausend Puncten abweichenden Particularge-
setzvüchern eine wesentliche Strafrechtslehre herauszudestilliren und in ihrer
inneren Nothwendigkeit zu begründen, war gewiß ein doppelt schweres Stück
Arbeit. Allein das war und ist doch nicht die einzige Schwierigkeit und die
Hauptsache bleibt immer, daß für die wissenschaftlich überzeugende Entwick¬
lung der aus der modernen Gesetzgebung geschöpften Lehre ganz andere Fun¬
damente nöthig sind, als sie die alte scholastische oder philosophische Schule
zu brauchen nöthig fand.

Mag indessen die Aufgabe noch so schwierig sein, sie bleibt bestehen und
muß erfüllt werden, wenn die Lehre vom Strafrecht die volle Höhe echter
Wissenschaft halten will. Sie hat es jetzt mit dem gemeinsamen Strafcodex
des Reiches zu thun. Dadurch wesentlich erleichtert, wird die Aufgabe um
so lockender. Es kann nicht unsere Absicht sein, der neu zu begründenden,
auf dem sichern Boden einheitlicher Gesetzgebung stehenden Wissenschaft und
Lehre hier die Wege vorzuzeichnen. Aber wir fordern, daß auch dies einheit¬
liche Strafrecht nicht als eine todte Menge positiver Regeln gelehrt, sondern
daß den Lernenden schon auf der Universität das innere Verständniß der
Materie eröffnet und selbst die kritische Beherrschung derselben ermöglicht
werde. Und dazu gehört Eines, was hervorgehoben werden muß, weil darin
unzweifelhaft der Wissenschaft ein weites Feld voll reicher Ausbeute sich aus¬
schließt, die mehr zu der wahren Begründung der Lehre beiträgt, als all die
doctrinell juridische und philosophische Begründung, mit der man früher zu
operiren gewohnt war. Die juristische Wissenschaft muß den Zusammenhang
der Strafgesetze mit dem politischen und socialen, mit dem geistigen und
wirthschaftlichen Leben der Völker aufdecken. Kein anderer Zweig des Rechts
redet deutlicher als Ausdruck des jeweiligen Culturzustandes, wie das Straf¬
recht. Diesen Gedanken durchzuführen, wäre eine wahrhaft große Aufgabe
der theoretischen Forschung. In ihm liegt die echte Begründung der neuen
und nationalen Strafrechtswissenschaft. Eine Lehre, von diesem Gedanken
erfüllt, wird die sichere Ueberzeugung von dem geben, was an dem positiven
Gesetz wahr und bleibend, oder nur vorübergehend oder unwahr ist.

Mit dem Strafproceßrecht wird es in Kurzem eben so aussehen, wie
mit dem Strafrecht. Eine einheitliche Strafproceßordnung des Reichs steht
nahe bevor und auch von der Lehre, die sich mit diesem Gegenstande befaßt,
gelten die gleichen Betrachtungen, zu denen die Lage der Strafrechtsdisciplin
auffordert. (Schluß folgt.)




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[0224] manu weiß und Mancher bedauert, noch nicht gekommen. Die Schwierig¬ keiten brauchen nicht auseinander gesetzt zu werden. Zum Theil lagen sie ohne Zweifel mit in dem Mangel eines einheitlichen Strafrechts. Aus den so und soviel untereinander in tausend Puncten abweichenden Particularge- setzvüchern eine wesentliche Strafrechtslehre herauszudestilliren und in ihrer inneren Nothwendigkeit zu begründen, war gewiß ein doppelt schweres Stück Arbeit. Allein das war und ist doch nicht die einzige Schwierigkeit und die Hauptsache bleibt immer, daß für die wissenschaftlich überzeugende Entwick¬ lung der aus der modernen Gesetzgebung geschöpften Lehre ganz andere Fun¬ damente nöthig sind, als sie die alte scholastische oder philosophische Schule zu brauchen nöthig fand. Mag indessen die Aufgabe noch so schwierig sein, sie bleibt bestehen und muß erfüllt werden, wenn die Lehre vom Strafrecht die volle Höhe echter Wissenschaft halten will. Sie hat es jetzt mit dem gemeinsamen Strafcodex des Reiches zu thun. Dadurch wesentlich erleichtert, wird die Aufgabe um so lockender. Es kann nicht unsere Absicht sein, der neu zu begründenden, auf dem sichern Boden einheitlicher Gesetzgebung stehenden Wissenschaft und Lehre hier die Wege vorzuzeichnen. Aber wir fordern, daß auch dies einheit¬ liche Strafrecht nicht als eine todte Menge positiver Regeln gelehrt, sondern daß den Lernenden schon auf der Universität das innere Verständniß der Materie eröffnet und selbst die kritische Beherrschung derselben ermöglicht werde. Und dazu gehört Eines, was hervorgehoben werden muß, weil darin unzweifelhaft der Wissenschaft ein weites Feld voll reicher Ausbeute sich aus¬ schließt, die mehr zu der wahren Begründung der Lehre beiträgt, als all die doctrinell juridische und philosophische Begründung, mit der man früher zu operiren gewohnt war. Die juristische Wissenschaft muß den Zusammenhang der Strafgesetze mit dem politischen und socialen, mit dem geistigen und wirthschaftlichen Leben der Völker aufdecken. Kein anderer Zweig des Rechts redet deutlicher als Ausdruck des jeweiligen Culturzustandes, wie das Straf¬ recht. Diesen Gedanken durchzuführen, wäre eine wahrhaft große Aufgabe der theoretischen Forschung. In ihm liegt die echte Begründung der neuen und nationalen Strafrechtswissenschaft. Eine Lehre, von diesem Gedanken erfüllt, wird die sichere Ueberzeugung von dem geben, was an dem positiven Gesetz wahr und bleibend, oder nur vorübergehend oder unwahr ist. Mit dem Strafproceßrecht wird es in Kurzem eben so aussehen, wie mit dem Strafrecht. Eine einheitliche Strafproceßordnung des Reichs steht nahe bevor und auch von der Lehre, die sich mit diesem Gegenstande befaßt, gelten die gleichen Betrachtungen, zu denen die Lage der Strafrechtsdisciplin auffordert. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/224>, abgerufen am 24.07.2024.