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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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bergewalt ächten Dichterwortes. Die Jugend insbesondere, deren Blick noch
unbefangen ist, saugt mit Wonne die Strahlen dieses Geistes in sich hinein.
Auch hat Mutter Natur dafür gesorgt, daß der Dichter auch in seinen Sprach¬
mitteln imponirend dem Hörer sich offenbare. Zum Herzen dringt mächtig
die klangvolle, starke Stimme. Kein Buch, kein Zettel ist in der Hand des
Rhapsoden. Das lebendige Wort quillt hervor wie ein unversiegbarer Strom;
aber man staunt nicht über das enorme Gedächtniß, weil man nicht das Ge¬
fühl hat, der Dichter reproducire schon Gedachtes; sondern nie Gedachtes
scheint er im Augenblick zu denken und die Worte, die er spricht, sind nicht
sowohl Thaten als vielmehr eben so viele Zustände seiner Poesie athmenden
Seele. So ist Jordan ein deutscher Dichter im edelsten Sinne. Er verwischt
den von manchen Literaturhistorikern hinter Goethe gezogenen schwarzen
Grenzstrich; -- er führt jenes glückliche Zusammentreffen herbei, daß Deutsch¬
land im Augenblick seiner Erhebung über alle Völker seinen ureigenen Dichter
und sein großes, nationales Epos findet. Mit prophetischer Kraft hat Jor¬
dan die nahe Machtentfaltung seines Volkes vorausgesagt in den Worten:


"Bevor Du Dein Lied noch völlig vollendet,
Werden geworfen die eisernen Würfel.
Die stärkende Noth des Sturmes naht schon:
Wann Heil und Hilfe nur Helden verheißen,
Erweck' ich aus uns den Weltüberwinder."

Das Wort hat sich erfüllt, und damit auch jene Ahnung Chriemhildens:


"Dann thronet
Auf erhabnen Hochsitz ein mächtigster Herrscher,
Wie noch Keinen bisher die Welt gekonnt hat.
Die Stufen des Thrones umstehen in Treue
Und einiger Stärke die sämmtlichen Stämme
Der deutschen Zunge." --

Möge denn das deutsche Volk seine ganze Größe, seine weltgeschichtliche
Aufgabe, seine neuesten Erfolge in diesem Gedichte wie in einem verklärenden
spiegelhellem und unergründlich tiefen See im Bilde schauen; möge es sich
freuen daran und immer mehr in das Ideal hineinwachsen. Dem Dichter
aber möge vergönnt sein, die treffliche Dichtung, deren zweiten Theil er noch
still arbeitend in sich trägt, mit jener Ruhe und Weihe zu vollenden, welche
das hohe Bewußtsein verleiht: Dein Volk kennt Dich und blickt auf Dich mit
I. V. Wichmann. Stolz und mit Liebe.




bergewalt ächten Dichterwortes. Die Jugend insbesondere, deren Blick noch
unbefangen ist, saugt mit Wonne die Strahlen dieses Geistes in sich hinein.
Auch hat Mutter Natur dafür gesorgt, daß der Dichter auch in seinen Sprach¬
mitteln imponirend dem Hörer sich offenbare. Zum Herzen dringt mächtig
die klangvolle, starke Stimme. Kein Buch, kein Zettel ist in der Hand des
Rhapsoden. Das lebendige Wort quillt hervor wie ein unversiegbarer Strom;
aber man staunt nicht über das enorme Gedächtniß, weil man nicht das Ge¬
fühl hat, der Dichter reproducire schon Gedachtes; sondern nie Gedachtes
scheint er im Augenblick zu denken und die Worte, die er spricht, sind nicht
sowohl Thaten als vielmehr eben so viele Zustände seiner Poesie athmenden
Seele. So ist Jordan ein deutscher Dichter im edelsten Sinne. Er verwischt
den von manchen Literaturhistorikern hinter Goethe gezogenen schwarzen
Grenzstrich; — er führt jenes glückliche Zusammentreffen herbei, daß Deutsch¬
land im Augenblick seiner Erhebung über alle Völker seinen ureigenen Dichter
und sein großes, nationales Epos findet. Mit prophetischer Kraft hat Jor¬
dan die nahe Machtentfaltung seines Volkes vorausgesagt in den Worten:


„Bevor Du Dein Lied noch völlig vollendet,
Werden geworfen die eisernen Würfel.
Die stärkende Noth des Sturmes naht schon:
Wann Heil und Hilfe nur Helden verheißen,
Erweck' ich aus uns den Weltüberwinder."

Das Wort hat sich erfüllt, und damit auch jene Ahnung Chriemhildens:


„Dann thronet
Auf erhabnen Hochsitz ein mächtigster Herrscher,
Wie noch Keinen bisher die Welt gekonnt hat.
Die Stufen des Thrones umstehen in Treue
Und einiger Stärke die sämmtlichen Stämme
Der deutschen Zunge." —

Möge denn das deutsche Volk seine ganze Größe, seine weltgeschichtliche
Aufgabe, seine neuesten Erfolge in diesem Gedichte wie in einem verklärenden
spiegelhellem und unergründlich tiefen See im Bilde schauen; möge es sich
freuen daran und immer mehr in das Ideal hineinwachsen. Dem Dichter
aber möge vergönnt sein, die treffliche Dichtung, deren zweiten Theil er noch
still arbeitend in sich trägt, mit jener Ruhe und Weihe zu vollenden, welche
das hohe Bewußtsein verleiht: Dein Volk kennt Dich und blickt auf Dich mit
I. V. Wichmann. Stolz und mit Liebe.




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[0189] bergewalt ächten Dichterwortes. Die Jugend insbesondere, deren Blick noch unbefangen ist, saugt mit Wonne die Strahlen dieses Geistes in sich hinein. Auch hat Mutter Natur dafür gesorgt, daß der Dichter auch in seinen Sprach¬ mitteln imponirend dem Hörer sich offenbare. Zum Herzen dringt mächtig die klangvolle, starke Stimme. Kein Buch, kein Zettel ist in der Hand des Rhapsoden. Das lebendige Wort quillt hervor wie ein unversiegbarer Strom; aber man staunt nicht über das enorme Gedächtniß, weil man nicht das Ge¬ fühl hat, der Dichter reproducire schon Gedachtes; sondern nie Gedachtes scheint er im Augenblick zu denken und die Worte, die er spricht, sind nicht sowohl Thaten als vielmehr eben so viele Zustände seiner Poesie athmenden Seele. So ist Jordan ein deutscher Dichter im edelsten Sinne. Er verwischt den von manchen Literaturhistorikern hinter Goethe gezogenen schwarzen Grenzstrich; — er führt jenes glückliche Zusammentreffen herbei, daß Deutsch¬ land im Augenblick seiner Erhebung über alle Völker seinen ureigenen Dichter und sein großes, nationales Epos findet. Mit prophetischer Kraft hat Jor¬ dan die nahe Machtentfaltung seines Volkes vorausgesagt in den Worten: „Bevor Du Dein Lied noch völlig vollendet, Werden geworfen die eisernen Würfel. Die stärkende Noth des Sturmes naht schon: Wann Heil und Hilfe nur Helden verheißen, Erweck' ich aus uns den Weltüberwinder." Das Wort hat sich erfüllt, und damit auch jene Ahnung Chriemhildens: „Dann thronet Auf erhabnen Hochsitz ein mächtigster Herrscher, Wie noch Keinen bisher die Welt gekonnt hat. Die Stufen des Thrones umstehen in Treue Und einiger Stärke die sämmtlichen Stämme Der deutschen Zunge." — Möge denn das deutsche Volk seine ganze Größe, seine weltgeschichtliche Aufgabe, seine neuesten Erfolge in diesem Gedichte wie in einem verklärenden spiegelhellem und unergründlich tiefen See im Bilde schauen; möge es sich freuen daran und immer mehr in das Ideal hineinwachsen. Dem Dichter aber möge vergönnt sein, die treffliche Dichtung, deren zweiten Theil er noch still arbeitend in sich trägt, mit jener Ruhe und Weihe zu vollenden, welche das hohe Bewußtsein verleiht: Dein Volk kennt Dich und blickt auf Dich mit I. V. Wichmann. Stolz und mit Liebe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/189>, abgerufen am 24.07.2024.