Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eiserne Dictatur durchsetzen und aufrecht erhalten läßt, ist einleuchtend. In¬
dessen an der Dictatur hat der französische Radicalismus und Socialismus
zu keiner Zeit Anstoß genommen: er empfindet es instinctmäßig, daß er. weil
sich der jedem Individuum eingeborne Trieb, dem Ganzen als selbststän¬
dige Persönlichkeit anzugehören, gegen jedes auf Vernichtung der Persön¬
lichkeit abzielende Experiment sträubt, nur durch den äußersten Zwang die
Gesellschaft feinen Satzungen unterwerfen kann.

Dessen ist sich denn Louis Blanc auch vollkommen bewußt: sein sociales und
politisches Ideal ist ohne den demokratischen Dictator, der mit gleicher Härte
den Willen und die Meinungen der Einzelnen sich unterwirft, ein Unding.
Aber gerade diese Schroffheit der Ansichten entsprach dem während des Juli¬
königthums sich in weiten Kreisen verbreitenden Geschmack der socialistischen
Grübeleien. Und da zugleich die Gegner des Orleanismus, sowie die Feinde
des auf das Uebergewicht der Bourgeoisie begründeten französischen Liberalis¬
mus von Louis Blane's schonungsloser Polemik höchlichst erbaut waren, so
übte sein Buch als Ferment eine wunderbare Wirkung aus, die um so größer
war, als es der chauvinistischen Leidenschaft der Franzosen durch seine bittere
Kritik der auswärtigen Politik des Königs mit großer Geschicklichkeit zu
schmeicheln wußte. Das Buch sammelte die radicalen Elemente der französi¬
schen Gesellschaft, es untergrub zugleich den Glauben an die Kraft und Lebens¬
fähigkeit der Julidynastie, es erweckte in Frankreich wie im Auslande das
Vorgefühl einer heranziehenden Katastrophe.

Die leitenden Kreise freilich, die in der zweiten Kammer den unerschüt¬
terlichen Sitz der Macht sahen und deren Aufmerksamkeit, nachdem die Pe¬
riode der Emeuten vorüber war, sich nur auf die Schwankungen der parla¬
mentarischen Majorität richtete, merkten von dieser Gefahr nichts. Die
dynastische Opposition trug kein Bedenken, sich mit den erklärten Gegnern
der Dynastie, ja mit den Führern des extremen Radicalismus zum Sturze
Guizots zu verbinden, in dem eitlen Wahn, daß die Leitung der Opposition
ganz in ihren Händen liege; und Guizot, obgleich nicht blind gegen die der
Gesellschaft und dem Staate von Seiten des Radicalismus drohenden Gefah¬
ren, concentrirte seine praktische Thätigkeit doch ganz auf die Bekämpfung
seiner parlamentarischen Gegner: auch er war nur allzu geneigt, die Kraft
und Bedeutung der Parteien nach der Zahl der Vertreter, die sie in die De-
putirtenkammer entsendeten, abzumessen. Der Widerhall, den Louis Blancs
systematische Herabwürdigung der parlamentarischen Institutionen hervorrief,
hätte den Minister und die Opposition eines Besseren belehren können. Aber
die Anhänger der Monarchie stürzten blind ins Verderben. Die monarchische
Linke, das linke Centrum, der diei-s piu'ti. alle Nuancen der dynastischen Oppo¬
sition, brachten gegen Guizot die Taktik in Anwendung, zu der Guizot selbst


eiserne Dictatur durchsetzen und aufrecht erhalten läßt, ist einleuchtend. In¬
dessen an der Dictatur hat der französische Radicalismus und Socialismus
zu keiner Zeit Anstoß genommen: er empfindet es instinctmäßig, daß er. weil
sich der jedem Individuum eingeborne Trieb, dem Ganzen als selbststän¬
dige Persönlichkeit anzugehören, gegen jedes auf Vernichtung der Persön¬
lichkeit abzielende Experiment sträubt, nur durch den äußersten Zwang die
Gesellschaft feinen Satzungen unterwerfen kann.

Dessen ist sich denn Louis Blanc auch vollkommen bewußt: sein sociales und
politisches Ideal ist ohne den demokratischen Dictator, der mit gleicher Härte
den Willen und die Meinungen der Einzelnen sich unterwirft, ein Unding.
Aber gerade diese Schroffheit der Ansichten entsprach dem während des Juli¬
königthums sich in weiten Kreisen verbreitenden Geschmack der socialistischen
Grübeleien. Und da zugleich die Gegner des Orleanismus, sowie die Feinde
des auf das Uebergewicht der Bourgeoisie begründeten französischen Liberalis¬
mus von Louis Blane's schonungsloser Polemik höchlichst erbaut waren, so
übte sein Buch als Ferment eine wunderbare Wirkung aus, die um so größer
war, als es der chauvinistischen Leidenschaft der Franzosen durch seine bittere
Kritik der auswärtigen Politik des Königs mit großer Geschicklichkeit zu
schmeicheln wußte. Das Buch sammelte die radicalen Elemente der französi¬
schen Gesellschaft, es untergrub zugleich den Glauben an die Kraft und Lebens¬
fähigkeit der Julidynastie, es erweckte in Frankreich wie im Auslande das
Vorgefühl einer heranziehenden Katastrophe.

Die leitenden Kreise freilich, die in der zweiten Kammer den unerschüt¬
terlichen Sitz der Macht sahen und deren Aufmerksamkeit, nachdem die Pe¬
riode der Emeuten vorüber war, sich nur auf die Schwankungen der parla¬
mentarischen Majorität richtete, merkten von dieser Gefahr nichts. Die
dynastische Opposition trug kein Bedenken, sich mit den erklärten Gegnern
der Dynastie, ja mit den Führern des extremen Radicalismus zum Sturze
Guizots zu verbinden, in dem eitlen Wahn, daß die Leitung der Opposition
ganz in ihren Händen liege; und Guizot, obgleich nicht blind gegen die der
Gesellschaft und dem Staate von Seiten des Radicalismus drohenden Gefah¬
ren, concentrirte seine praktische Thätigkeit doch ganz auf die Bekämpfung
seiner parlamentarischen Gegner: auch er war nur allzu geneigt, die Kraft
und Bedeutung der Parteien nach der Zahl der Vertreter, die sie in die De-
putirtenkammer entsendeten, abzumessen. Der Widerhall, den Louis Blancs
systematische Herabwürdigung der parlamentarischen Institutionen hervorrief,
hätte den Minister und die Opposition eines Besseren belehren können. Aber
die Anhänger der Monarchie stürzten blind ins Verderben. Die monarchische
Linke, das linke Centrum, der diei-s piu'ti. alle Nuancen der dynastischen Oppo¬
sition, brachten gegen Guizot die Taktik in Anwendung, zu der Guizot selbst


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126456"/>
            <p xml:id="ID_516" prev="#ID_515"> eiserne Dictatur durchsetzen und aufrecht erhalten läßt, ist einleuchtend. In¬<lb/>
dessen an der Dictatur hat der französische Radicalismus und Socialismus<lb/>
zu keiner Zeit Anstoß genommen: er empfindet es instinctmäßig, daß er. weil<lb/>
sich der jedem Individuum eingeborne Trieb, dem Ganzen als selbststän¬<lb/>
dige Persönlichkeit anzugehören, gegen jedes auf Vernichtung der Persön¬<lb/>
lichkeit abzielende Experiment sträubt, nur durch den äußersten Zwang die<lb/>
Gesellschaft feinen Satzungen unterwerfen kann.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_517"> Dessen ist sich denn Louis Blanc auch vollkommen bewußt: sein sociales und<lb/>
politisches Ideal ist ohne den demokratischen Dictator, der mit gleicher Härte<lb/>
den Willen und die Meinungen der Einzelnen sich unterwirft, ein Unding.<lb/>
Aber gerade diese Schroffheit der Ansichten entsprach dem während des Juli¬<lb/>
königthums sich in weiten Kreisen verbreitenden Geschmack der socialistischen<lb/>
Grübeleien. Und da zugleich die Gegner des Orleanismus, sowie die Feinde<lb/>
des auf das Uebergewicht der Bourgeoisie begründeten französischen Liberalis¬<lb/>
mus von Louis Blane's schonungsloser Polemik höchlichst erbaut waren, so<lb/>
übte sein Buch als Ferment eine wunderbare Wirkung aus, die um so größer<lb/>
war, als es der chauvinistischen Leidenschaft der Franzosen durch seine bittere<lb/>
Kritik der auswärtigen Politik des Königs mit großer Geschicklichkeit zu<lb/>
schmeicheln wußte. Das Buch sammelte die radicalen Elemente der französi¬<lb/>
schen Gesellschaft, es untergrub zugleich den Glauben an die Kraft und Lebens¬<lb/>
fähigkeit der Julidynastie, es erweckte in Frankreich wie im Auslande das<lb/>
Vorgefühl einer heranziehenden Katastrophe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_518" next="#ID_519"> Die leitenden Kreise freilich, die in der zweiten Kammer den unerschüt¬<lb/>
terlichen Sitz der Macht sahen und deren Aufmerksamkeit, nachdem die Pe¬<lb/>
riode der Emeuten vorüber war, sich nur auf die Schwankungen der parla¬<lb/>
mentarischen Majorität richtete, merkten von dieser Gefahr nichts. Die<lb/>
dynastische Opposition trug kein Bedenken, sich mit den erklärten Gegnern<lb/>
der Dynastie, ja mit den Führern des extremen Radicalismus zum Sturze<lb/>
Guizots zu verbinden, in dem eitlen Wahn, daß die Leitung der Opposition<lb/>
ganz in ihren Händen liege; und Guizot, obgleich nicht blind gegen die der<lb/>
Gesellschaft und dem Staate von Seiten des Radicalismus drohenden Gefah¬<lb/>
ren, concentrirte seine praktische Thätigkeit doch ganz auf die Bekämpfung<lb/>
seiner parlamentarischen Gegner: auch er war nur allzu geneigt, die Kraft<lb/>
und Bedeutung der Parteien nach der Zahl der Vertreter, die sie in die De-<lb/>
putirtenkammer entsendeten, abzumessen. Der Widerhall, den Louis Blancs<lb/>
systematische Herabwürdigung der parlamentarischen Institutionen hervorrief,<lb/>
hätte den Minister und die Opposition eines Besseren belehren können. Aber<lb/>
die Anhänger der Monarchie stürzten blind ins Verderben. Die monarchische<lb/>
Linke, das linke Centrum, der diei-s piu'ti. alle Nuancen der dynastischen Oppo¬<lb/>
sition, brachten gegen Guizot die Taktik in Anwendung, zu der Guizot selbst</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] eiserne Dictatur durchsetzen und aufrecht erhalten läßt, ist einleuchtend. In¬ dessen an der Dictatur hat der französische Radicalismus und Socialismus zu keiner Zeit Anstoß genommen: er empfindet es instinctmäßig, daß er. weil sich der jedem Individuum eingeborne Trieb, dem Ganzen als selbststän¬ dige Persönlichkeit anzugehören, gegen jedes auf Vernichtung der Persön¬ lichkeit abzielende Experiment sträubt, nur durch den äußersten Zwang die Gesellschaft feinen Satzungen unterwerfen kann. Dessen ist sich denn Louis Blanc auch vollkommen bewußt: sein sociales und politisches Ideal ist ohne den demokratischen Dictator, der mit gleicher Härte den Willen und die Meinungen der Einzelnen sich unterwirft, ein Unding. Aber gerade diese Schroffheit der Ansichten entsprach dem während des Juli¬ königthums sich in weiten Kreisen verbreitenden Geschmack der socialistischen Grübeleien. Und da zugleich die Gegner des Orleanismus, sowie die Feinde des auf das Uebergewicht der Bourgeoisie begründeten französischen Liberalis¬ mus von Louis Blane's schonungsloser Polemik höchlichst erbaut waren, so übte sein Buch als Ferment eine wunderbare Wirkung aus, die um so größer war, als es der chauvinistischen Leidenschaft der Franzosen durch seine bittere Kritik der auswärtigen Politik des Königs mit großer Geschicklichkeit zu schmeicheln wußte. Das Buch sammelte die radicalen Elemente der französi¬ schen Gesellschaft, es untergrub zugleich den Glauben an die Kraft und Lebens¬ fähigkeit der Julidynastie, es erweckte in Frankreich wie im Auslande das Vorgefühl einer heranziehenden Katastrophe. Die leitenden Kreise freilich, die in der zweiten Kammer den unerschüt¬ terlichen Sitz der Macht sahen und deren Aufmerksamkeit, nachdem die Pe¬ riode der Emeuten vorüber war, sich nur auf die Schwankungen der parla¬ mentarischen Majorität richtete, merkten von dieser Gefahr nichts. Die dynastische Opposition trug kein Bedenken, sich mit den erklärten Gegnern der Dynastie, ja mit den Führern des extremen Radicalismus zum Sturze Guizots zu verbinden, in dem eitlen Wahn, daß die Leitung der Opposition ganz in ihren Händen liege; und Guizot, obgleich nicht blind gegen die der Gesellschaft und dem Staate von Seiten des Radicalismus drohenden Gefah¬ ren, concentrirte seine praktische Thätigkeit doch ganz auf die Bekämpfung seiner parlamentarischen Gegner: auch er war nur allzu geneigt, die Kraft und Bedeutung der Parteien nach der Zahl der Vertreter, die sie in die De- putirtenkammer entsendeten, abzumessen. Der Widerhall, den Louis Blancs systematische Herabwürdigung der parlamentarischen Institutionen hervorrief, hätte den Minister und die Opposition eines Besseren belehren können. Aber die Anhänger der Monarchie stürzten blind ins Verderben. Die monarchische Linke, das linke Centrum, der diei-s piu'ti. alle Nuancen der dynastischen Oppo¬ sition, brachten gegen Guizot die Taktik in Anwendung, zu der Guizot selbst

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/180>, abgerufen am 24.07.2024.