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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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und Wünsche haben ganz plötzlich in ungeahnter Weise Erfüllung gefunden.
Allerdings, manche warme und einsichtige Patrioten hatten in den letzten
Jahren den Gang der politischen Dinge in Deutschland sich anders gedacht,
als er nun eingetreten ist. Man glaubte auf dem durch Preußens Kraft
1866 gelegten Grunde weiter zu bauen, erst den norddeutschen Bund fester
und sicherer und einheitlicher einzurichten, ehe die Deutschen jenseit des Mains
zum Zutritt, zur Vollendung des deutschen Staates hinzukamen. Es war nicht
möglich, diesen friedlichen, ebenen, wenn ich so sagen darf systematischen Weg
zu gehen. Indem wir gar nicht anders konnten, indem wir sofort "Kaiser
und Reich" proclamirten, ist das Gefüge des neuen deutschen Reiches weit
loser und lockerer gestaltet, als es dem Charakter des norddeutschen Bundes
eigen gewesen. Wir verhehlen uns dies nicht, aber wir sehen zugleich den
unendlich überwiegenden Segen der Erstreckung unseres Reichsbaues über
Süden und Norden von Deutschland. Und wer aus der Geschichte unseres
Volkes die Einsicht geschöpft und begründet hat in das Endziel, dem unser
Volk zustrebt, der wird auch heute festhalten an der Zuversicht auf eine wahr¬
haft staatliche Zukunft von Deutschland, an der zweifellosen Gewißheit, daß
unsere Reichseinheit alle Schranken und Hemmnisse des Particularismus über¬
winden werde.

Wir haben mit dem neuen deutschen Reiche an Erinnerungen deutscher
Vergangenheit angeknüpft. Wir hören von der Herstellung des deutschen
Reiches, von der Erneuerung des deutschen Kaiserthums. Es klingt so,
als ob dem jetzt erstandenen Deutschland der Charakter einer Wiederbelebung
abgestorbener Institutionen gegeben werden sollte. Es klingt so, als ob
unseres Kaisers Vorfahren am Reiche jene mittelalterlichen Heldengestalten
heißen sollten, welche die Kaiserkrone zuerst in Deutschland getragen. Ist
denn das wirklicher Ernst? Soll das neue Kaiserthum der Hohenzollern Fort¬
setzung und Erbe sein der Ottonen, der Salier, der Staufen? Hat am
18. Januar 1871 das "heilige römische Reich deutscher Nation" wirklich seine
Auferstehung gefeiert? Soll derselbe 18. Januar, der 1701 hier in unserem
Königsberg die Geburt des preußischen Königthums der Hohenzollern und
damit die entscheidende That zur Vernichtung der alten Reichsruinen gesehen,
-- soll dieser selbe 18. Januar 170 Jahre später die Rückkehr zu jenen be¬
seitigten Zuständen und Bestrebungen bezeichnen?

Ein Historiker des 10. Jahrhunderts, der sächsische Mönch Widukind
von Corvey erzählt: nach dem großen Siege König Ottos I. über die Ungarn
955, durch den die Sicherheit Deutschlands begründet wurde, habe das sieg¬
reiche Heer den triumphirenden König mit dem Zurufe "Kaiser" begrüßt;
und unser Berichterstatter giebt von diesem Punkte ab Otto diesen Titel.
Wie es nun auch mit der staatsrechtlichen Begründung dieses Verfahrens


und Wünsche haben ganz plötzlich in ungeahnter Weise Erfüllung gefunden.
Allerdings, manche warme und einsichtige Patrioten hatten in den letzten
Jahren den Gang der politischen Dinge in Deutschland sich anders gedacht,
als er nun eingetreten ist. Man glaubte auf dem durch Preußens Kraft
1866 gelegten Grunde weiter zu bauen, erst den norddeutschen Bund fester
und sicherer und einheitlicher einzurichten, ehe die Deutschen jenseit des Mains
zum Zutritt, zur Vollendung des deutschen Staates hinzukamen. Es war nicht
möglich, diesen friedlichen, ebenen, wenn ich so sagen darf systematischen Weg
zu gehen. Indem wir gar nicht anders konnten, indem wir sofort „Kaiser
und Reich" proclamirten, ist das Gefüge des neuen deutschen Reiches weit
loser und lockerer gestaltet, als es dem Charakter des norddeutschen Bundes
eigen gewesen. Wir verhehlen uns dies nicht, aber wir sehen zugleich den
unendlich überwiegenden Segen der Erstreckung unseres Reichsbaues über
Süden und Norden von Deutschland. Und wer aus der Geschichte unseres
Volkes die Einsicht geschöpft und begründet hat in das Endziel, dem unser
Volk zustrebt, der wird auch heute festhalten an der Zuversicht auf eine wahr¬
haft staatliche Zukunft von Deutschland, an der zweifellosen Gewißheit, daß
unsere Reichseinheit alle Schranken und Hemmnisse des Particularismus über¬
winden werde.

Wir haben mit dem neuen deutschen Reiche an Erinnerungen deutscher
Vergangenheit angeknüpft. Wir hören von der Herstellung des deutschen
Reiches, von der Erneuerung des deutschen Kaiserthums. Es klingt so,
als ob dem jetzt erstandenen Deutschland der Charakter einer Wiederbelebung
abgestorbener Institutionen gegeben werden sollte. Es klingt so, als ob
unseres Kaisers Vorfahren am Reiche jene mittelalterlichen Heldengestalten
heißen sollten, welche die Kaiserkrone zuerst in Deutschland getragen. Ist
denn das wirklicher Ernst? Soll das neue Kaiserthum der Hohenzollern Fort¬
setzung und Erbe sein der Ottonen, der Salier, der Staufen? Hat am
18. Januar 1871 das „heilige römische Reich deutscher Nation" wirklich seine
Auferstehung gefeiert? Soll derselbe 18. Januar, der 1701 hier in unserem
Königsberg die Geburt des preußischen Königthums der Hohenzollern und
damit die entscheidende That zur Vernichtung der alten Reichsruinen gesehen,
— soll dieser selbe 18. Januar 170 Jahre später die Rückkehr zu jenen be¬
seitigten Zuständen und Bestrebungen bezeichnen?

Ein Historiker des 10. Jahrhunderts, der sächsische Mönch Widukind
von Corvey erzählt: nach dem großen Siege König Ottos I. über die Ungarn
955, durch den die Sicherheit Deutschlands begründet wurde, habe das sieg¬
reiche Heer den triumphirenden König mit dem Zurufe „Kaiser" begrüßt;
und unser Berichterstatter giebt von diesem Punkte ab Otto diesen Titel.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/91>, abgerufen am 29.12.2024.