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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Neuen und Besseren entging seinem scharfen Blicke nicht, mit dem er bald
durchschaute, daß vieles, was sich als neuste Weisheit breit machte, doch nur
der Schaum war, den eine noch nicht beendigte Währung in die Höhe trieb.'
Aus dieser Stimmung heraus schrieb er die "deutsche Entartung," welche
ein Beurtheiler durch ein Bild charakterisirt. "Wenn ein Meeresstrudel bran¬
det und tost, so wühlt er vom untersten Grunde seltsame Stoffe auf und
treibt sie in seltsamen Gestalten an die Oberfläche, oft zum Schrecken derer,
die diese Gebilde schauen; aber umhüllt von diesen Formen liegen eingeschlos¬
sen in jenen Stoffen auch köstliche Perlen und herrliches Edelgestein, zur
Freude dessen, der sie findet; so ist dieses Buch." Aber dieses Buch wider¬
sprach dem Geiste, der 1847 die Zeit beherrschte, es fand deshalb wenig Zu¬
stimmung und wird jetzt kaum noch genannt. Viel erfolgreicher war das
andere Werk, das "Buch der Kindheit," welches in gewissem Maaße für
die deutsche Literatur Epoche machte. Einzelne Theile desselben, die als Jour¬
nalaufsätze abgedruckt waren, waren als solche wohl bemäkelt worden; jetzt, da
sie als Glieder eines Ganzen vorlagen, verstummten nicht nur die Stimmen
mißgünstiger Tadler, sondern der von Goltz eingeschlagene Weg ward bald
auch von andern betreten und er so der Schöpfer einer neuen Gattung unse¬
rer deutschen Nationalliteratur, in deren Ausbildung seinem Beispiele zunächst
Rudolph Reichenau folgte.

Der Beschluß, Gollub zu verlassen, stand bei ihm fest, nicht aber der
über den Ort feines künftigen Wohnsitzes; er machte zuerst einen Versuch mit
Culm, weil dort eine jüngere, in seinem Hause seit ihrer Kindheit aufgewach¬
sene Schwester seiner Frau verheirathet war. Denn ein hervorstechender Zug
in seinem Charakter war die treue Anhänglichkeit an die Familie, ein Zug,
der freilich nicht allein, aber doch wesentlich auf seine Neigung zum Umgang
mit Juden eingewirkt hat, bei denen ja auch seit uralter Zeit die Festigkeit
der Familienbande sich viel stärker zeigt, als dies in christlichen Häusern ge¬
wöhnlich der Fall ist.

Einen großen Theil des für die beiden Bücher erhaltenen Honorars ver¬
wendete er aber zunächst für eine größere Reise nach Westen. Von der deut¬
schen Grenze an wählte er die Richtung durch Frankreich zwischen der Loire
und Seine, auf der er gleichmäßig durch den Reichthum und die Schönheit
des Landes/wie durch die gewaltigen gothischen Kirchen erquickt und ergriffen
wurde. -- Von Paris, wo er mit Victor Hugo') in Berührung kam, wendete



") G. war der französischen Sprache nur wenig mächtig, ebenso B. H. der deutschen; die
Unterhaltung bei Tisch wurde also, soweit das Nadebrcchen nicht ausreichte, durch Vermittelung
anderer, beider Sprachen kundiger Gäste, namentlich mit der Gattin von V. H. geführt. Diese
äußerte ihre Verwunderung darüber, daß ein so geistvoller deutscher Mann, wie G., nicht fertig
französisch spräche, worauf G. dann erwiederte: mit demselben Recht könne er fragen, wie es
denn käme, daß ein so großer Dichter wie V. H. und eine so hochgebildete Dame Wie dessen
Gattin nicht geläufig deutsch verständen.

Neuen und Besseren entging seinem scharfen Blicke nicht, mit dem er bald
durchschaute, daß vieles, was sich als neuste Weisheit breit machte, doch nur
der Schaum war, den eine noch nicht beendigte Währung in die Höhe trieb.'
Aus dieser Stimmung heraus schrieb er die „deutsche Entartung," welche
ein Beurtheiler durch ein Bild charakterisirt. „Wenn ein Meeresstrudel bran¬
det und tost, so wühlt er vom untersten Grunde seltsame Stoffe auf und
treibt sie in seltsamen Gestalten an die Oberfläche, oft zum Schrecken derer,
die diese Gebilde schauen; aber umhüllt von diesen Formen liegen eingeschlos¬
sen in jenen Stoffen auch köstliche Perlen und herrliches Edelgestein, zur
Freude dessen, der sie findet; so ist dieses Buch." Aber dieses Buch wider¬
sprach dem Geiste, der 1847 die Zeit beherrschte, es fand deshalb wenig Zu¬
stimmung und wird jetzt kaum noch genannt. Viel erfolgreicher war das
andere Werk, das „Buch der Kindheit," welches in gewissem Maaße für
die deutsche Literatur Epoche machte. Einzelne Theile desselben, die als Jour¬
nalaufsätze abgedruckt waren, waren als solche wohl bemäkelt worden; jetzt, da
sie als Glieder eines Ganzen vorlagen, verstummten nicht nur die Stimmen
mißgünstiger Tadler, sondern der von Goltz eingeschlagene Weg ward bald
auch von andern betreten und er so der Schöpfer einer neuen Gattung unse¬
rer deutschen Nationalliteratur, in deren Ausbildung seinem Beispiele zunächst
Rudolph Reichenau folgte.

Der Beschluß, Gollub zu verlassen, stand bei ihm fest, nicht aber der
über den Ort feines künftigen Wohnsitzes; er machte zuerst einen Versuch mit
Culm, weil dort eine jüngere, in seinem Hause seit ihrer Kindheit aufgewach¬
sene Schwester seiner Frau verheirathet war. Denn ein hervorstechender Zug
in seinem Charakter war die treue Anhänglichkeit an die Familie, ein Zug,
der freilich nicht allein, aber doch wesentlich auf seine Neigung zum Umgang
mit Juden eingewirkt hat, bei denen ja auch seit uralter Zeit die Festigkeit
der Familienbande sich viel stärker zeigt, als dies in christlichen Häusern ge¬
wöhnlich der Fall ist.

Einen großen Theil des für die beiden Bücher erhaltenen Honorars ver¬
wendete er aber zunächst für eine größere Reise nach Westen. Von der deut¬
schen Grenze an wählte er die Richtung durch Frankreich zwischen der Loire
und Seine, auf der er gleichmäßig durch den Reichthum und die Schönheit
des Landes/wie durch die gewaltigen gothischen Kirchen erquickt und ergriffen
wurde. — Von Paris, wo er mit Victor Hugo') in Berührung kam, wendete



") G. war der französischen Sprache nur wenig mächtig, ebenso B. H. der deutschen; die
Unterhaltung bei Tisch wurde also, soweit das Nadebrcchen nicht ausreichte, durch Vermittelung
anderer, beider Sprachen kundiger Gäste, namentlich mit der Gattin von V. H. geführt. Diese
äußerte ihre Verwunderung darüber, daß ein so geistvoller deutscher Mann, wie G., nicht fertig
französisch spräche, worauf G. dann erwiederte: mit demselben Recht könne er fragen, wie es
denn käme, daß ein so großer Dichter wie V. H. und eine so hochgebildete Dame Wie dessen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/499>, abgerufen am 29.09.2024.