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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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rächen? Die Art, wie die siegreichen Truppen, ohne zu bezahlen, bei uns
lebten, die Art, wie das uns auferlegte Joch um so bitterer wurde, indem
sie ihren Requisitionen den Schein von Methode und Gesetzlichkeit gaben?
Besser, sofort von vornherein beraubt werden, als durch unsre eignen, zu
Werkzeugen der Erpressung gemachten Behörden.

Wie wir die Erniedrigung, die wir täglich und stündlich durchlebten, er¬
trugen, verstehe ich selbst jetzt kaum. Und was war uns geblieben, wofür
es sich zu leben lohnte? Unsrer Colonien beraubt, Canada und Westindien
an Amerika gefallen, Australien gezwungen, sich loszureißen, Ostindien für
immer verloren, nachdem die dort ansässigen Engländer vernichtet waren,
nachdem sie vergebens, von ihren Landsleuten abgeschnitten, versucht hatten
das Land zu halten, Gibraltar und Malta der neuen Seemacht abgetreten,
Irland unabhängig und in unaufhörlicher Anarchie und Revolution.

Wenn .ich mein Vaterland betrachte, wie es jetzt ist -- sein Handel dahin,
seine Fabriken todtenstill, seine Häfen leer, das Land eine Beute der Ver¬
armung und Verrottung, wenn ich dieß alles sehe und denke, was Groß-
britannien in meiner Jugend war, so frage ich mich, ob ich denn wirk¬
lich ein Herz oder irgend welches Gefühl von Patriotismus habe, daß ich
solcher Erniedrigung als Zeuge beigewohnt und noch Lust gehabt habe, wei¬
ter zu leben.

Frankreich war etwas Anderes. Auch hier hatten sie das Brod der
Trübsal zu essen unter dem Joche des Eroberers. Ihr Fall war kaum we¬
niger plötzlich und heftig als der unsere, aber der Krieg konnte ihnen nicht
ihren reichen Boden nehmen, sie hatten keine Colonien zu verlieren, ihre wei¬
ten Ländereien, die ihren Reichthum ausmachten, verblieben ihnen, und so
erhoben sie sich von dem Schlage wieder. Aber unser Volk konnte nicht dahin
gebracht werden, einzusehen, wie künstlich unser Wohlstand war, daß er ganz
und gar auf Handel mit dem Ausland und auf finanziellem Credit beruhte, daß,
wenn die Strömung des Verkehrs sich einmal von uns abwandte, wenn auch nur
für eine Meile, sie vielleicht nimmermehr zurückkehrte, und daß unser Credit,
einmal erschüttert, vielleicht nie wieder hergestellt wurde.

Hörte man in jenen Tagen die Leute reden, so hätte man meinen sollen,
die Vorsehung habe verordnet, daß unsre Regierung ihre Anleihen stets zu
drei Procent Zinsen unterbringen sollte, und daß der Handel uns deßhalb
zuströmte, weil wir auf einer kleinen nebligen Insel lebten, die in eine stür¬
mische See gesetzt ist. Sie waren nicht dazu zu bringen, zu begreifen, daß
der allenthalben aufgehäufte Reichthum nicht im Lande selbst erzeugt war,
sondern aus Indien und China und andern Theilen der Welt stammte, und
daß es für die Leute, die durch Kauf und Verkauf der natürlichen Schätze
der Erde Geld verdienten, ganz gut möglich war, wegzuziehen und anderswo


rächen? Die Art, wie die siegreichen Truppen, ohne zu bezahlen, bei uns
lebten, die Art, wie das uns auferlegte Joch um so bitterer wurde, indem
sie ihren Requisitionen den Schein von Methode und Gesetzlichkeit gaben?
Besser, sofort von vornherein beraubt werden, als durch unsre eignen, zu
Werkzeugen der Erpressung gemachten Behörden.

Wie wir die Erniedrigung, die wir täglich und stündlich durchlebten, er¬
trugen, verstehe ich selbst jetzt kaum. Und was war uns geblieben, wofür
es sich zu leben lohnte? Unsrer Colonien beraubt, Canada und Westindien
an Amerika gefallen, Australien gezwungen, sich loszureißen, Ostindien für
immer verloren, nachdem die dort ansässigen Engländer vernichtet waren,
nachdem sie vergebens, von ihren Landsleuten abgeschnitten, versucht hatten
das Land zu halten, Gibraltar und Malta der neuen Seemacht abgetreten,
Irland unabhängig und in unaufhörlicher Anarchie und Revolution.

Wenn .ich mein Vaterland betrachte, wie es jetzt ist — sein Handel dahin,
seine Fabriken todtenstill, seine Häfen leer, das Land eine Beute der Ver¬
armung und Verrottung, wenn ich dieß alles sehe und denke, was Groß-
britannien in meiner Jugend war, so frage ich mich, ob ich denn wirk¬
lich ein Herz oder irgend welches Gefühl von Patriotismus habe, daß ich
solcher Erniedrigung als Zeuge beigewohnt und noch Lust gehabt habe, wei¬
ter zu leben.

Frankreich war etwas Anderes. Auch hier hatten sie das Brod der
Trübsal zu essen unter dem Joche des Eroberers. Ihr Fall war kaum we¬
niger plötzlich und heftig als der unsere, aber der Krieg konnte ihnen nicht
ihren reichen Boden nehmen, sie hatten keine Colonien zu verlieren, ihre wei¬
ten Ländereien, die ihren Reichthum ausmachten, verblieben ihnen, und so
erhoben sie sich von dem Schlage wieder. Aber unser Volk konnte nicht dahin
gebracht werden, einzusehen, wie künstlich unser Wohlstand war, daß er ganz
und gar auf Handel mit dem Ausland und auf finanziellem Credit beruhte, daß,
wenn die Strömung des Verkehrs sich einmal von uns abwandte, wenn auch nur
für eine Meile, sie vielleicht nimmermehr zurückkehrte, und daß unser Credit,
einmal erschüttert, vielleicht nie wieder hergestellt wurde.

Hörte man in jenen Tagen die Leute reden, so hätte man meinen sollen,
die Vorsehung habe verordnet, daß unsre Regierung ihre Anleihen stets zu
drei Procent Zinsen unterbringen sollte, und daß der Handel uns deßhalb
zuströmte, weil wir auf einer kleinen nebligen Insel lebten, die in eine stür¬
mische See gesetzt ist. Sie waren nicht dazu zu bringen, zu begreifen, daß
der allenthalben aufgehäufte Reichthum nicht im Lande selbst erzeugt war,
sondern aus Indien und China und andern Theilen der Welt stammte, und
daß es für die Leute, die durch Kauf und Verkauf der natürlichen Schätze
der Erde Geld verdienten, ganz gut möglich war, wegzuziehen und anderswo


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/470>, abgerufen am 29.09.2024.