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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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ich mich plötzlich entsann, daß ich am Hause von Travers vorbeiging, einem
der ersten in einer Reihe von Villen, die damals von dem Bahnhofe nach
Kingston führte. Ich fragte mich, ob er nach Hause gebracht worden sei,
wie sein getreuer alter Diener versprochen hatte, und ob seine Frau noch
dort wäre. Ich erinnere mich bis auf diesen Tag noch des Gefühls der
Scham, welches ich empfand, als ich mir zurückrief, daß ich an ihn, meinen
liebsten Freund, auch nicht mit einem Gedanken gedacht, seit ich ihn am Tage
vorher aus dem Gefechte getragen hatte. Aber Krieg und Leiden machen die
Menschen selbstsüchtig.

Ich wollte jetzt auf jeden Fall hineingehen und einen Augenblick aus¬
ruhen und sehen, ob ich irgendwie nützlich sein könnte. Der kleine Garten
vor dem Hause war so sauber und nett wie immer -- ich pflegte jeden Tag
auf meinem Wege zur Station an ihm vorüberzugehen und kannte jeden
Strauch in ihm -- und eine wahre Gluth von Blumen strahlte mir daraus
entgegen, aber die Thür zum Vorhause stand weit offen. Ich trat hinein
und sah den kleinen Arthur im Vorhause stehen. Er war so niedlich wie
immer angezogen worden, und als er so dastand, in seinem hübschen blauen
Kleidchen, seinen weißen Höschen und seinen Strümpfen, welche die derben
kleinen Beinchen sehen ließen, mit seinen goldenen Locken, seinem hellen Ge¬
sicht und seinen großen schwarzen Augen, das Bild kindlicher Schönheit in
der stillen Halle, die ganz so wie immer aussah mit den Blumenvasen, dem
Hut und den Stöcken, die herumhingen, den Familienporträts an der
Wand -- ließ mich der Anblick dieses Friedens mitten im Kriege, schwach und
drehend im Kopfe, wie ich war, mich einen Augenblick fragen, ob die draußen
wüthende Hölle wirklich existire und nicht blos ein gräßlicher Traum sei.
Aber das Brüllen der Geschütze, vor dem das Haus erzitterte, und das Sau¬
sen der Kugeln gab sofort die Antwort.

Der kleine Bursche schien von, dem Schauspiel um ihn fast nichts zu
ahnen. Er ging die Treppe hinauf, indem er sich an das Geländer anhielt,
und immer nur mit dem einen Beinchen stieg, wie ich's ihn hundertmal hatte
thun sehen, sah sich aber um, als ich eintrat. Meine Erscheinung erschreckte
ihn, und wie ich so in das Vorhaus taumelte, mein Gesicht und meine Klei¬
der mit Blut und Koth bedeckt, muß ich dem Kinde als ein fürchterliches
Wesen erschienen sein; denn es stieß einen Schrei aus und kehrte um nach
den Stufen, die in das Souterrain führten. Aber er hielt inne, als er
meine Stimme hörte, wie ich ihn zu seinem Pathen zurückrief, und nach einer
Weile kam er schüchtern auf mich zu. Papa wäre in der Schlacht gewesen,
sagte er, und jetzt sehr krank. Mama wäre bei ihm. Wood wäre wegge¬
gangen. Lucy wäre unten im Keller und hätte ihn mit dahin genommen,
aber er wollte zu Mama.


ich mich plötzlich entsann, daß ich am Hause von Travers vorbeiging, einem
der ersten in einer Reihe von Villen, die damals von dem Bahnhofe nach
Kingston führte. Ich fragte mich, ob er nach Hause gebracht worden sei,
wie sein getreuer alter Diener versprochen hatte, und ob seine Frau noch
dort wäre. Ich erinnere mich bis auf diesen Tag noch des Gefühls der
Scham, welches ich empfand, als ich mir zurückrief, daß ich an ihn, meinen
liebsten Freund, auch nicht mit einem Gedanken gedacht, seit ich ihn am Tage
vorher aus dem Gefechte getragen hatte. Aber Krieg und Leiden machen die
Menschen selbstsüchtig.

Ich wollte jetzt auf jeden Fall hineingehen und einen Augenblick aus¬
ruhen und sehen, ob ich irgendwie nützlich sein könnte. Der kleine Garten
vor dem Hause war so sauber und nett wie immer — ich pflegte jeden Tag
auf meinem Wege zur Station an ihm vorüberzugehen und kannte jeden
Strauch in ihm — und eine wahre Gluth von Blumen strahlte mir daraus
entgegen, aber die Thür zum Vorhause stand weit offen. Ich trat hinein
und sah den kleinen Arthur im Vorhause stehen. Er war so niedlich wie
immer angezogen worden, und als er so dastand, in seinem hübschen blauen
Kleidchen, seinen weißen Höschen und seinen Strümpfen, welche die derben
kleinen Beinchen sehen ließen, mit seinen goldenen Locken, seinem hellen Ge¬
sicht und seinen großen schwarzen Augen, das Bild kindlicher Schönheit in
der stillen Halle, die ganz so wie immer aussah mit den Blumenvasen, dem
Hut und den Stöcken, die herumhingen, den Familienporträts an der
Wand — ließ mich der Anblick dieses Friedens mitten im Kriege, schwach und
drehend im Kopfe, wie ich war, mich einen Augenblick fragen, ob die draußen
wüthende Hölle wirklich existire und nicht blos ein gräßlicher Traum sei.
Aber das Brüllen der Geschütze, vor dem das Haus erzitterte, und das Sau¬
sen der Kugeln gab sofort die Antwort.

Der kleine Bursche schien von, dem Schauspiel um ihn fast nichts zu
ahnen. Er ging die Treppe hinauf, indem er sich an das Geländer anhielt,
und immer nur mit dem einen Beinchen stieg, wie ich's ihn hundertmal hatte
thun sehen, sah sich aber um, als ich eintrat. Meine Erscheinung erschreckte
ihn, und wie ich so in das Vorhaus taumelte, mein Gesicht und meine Klei¬
der mit Blut und Koth bedeckt, muß ich dem Kinde als ein fürchterliches
Wesen erschienen sein; denn es stieß einen Schrei aus und kehrte um nach
den Stufen, die in das Souterrain führten. Aber er hielt inne, als er
meine Stimme hörte, wie ich ihn zu seinem Pathen zurückrief, und nach einer
Weile kam er schüchtern auf mich zu. Papa wäre in der Schlacht gewesen,
sagte er, und jetzt sehr krank. Mama wäre bei ihm. Wood wäre wegge¬
gangen. Lucy wäre unten im Keller und hätte ihn mit dahin genommen,
aber er wollte zu Mama.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/464>, abgerufen am 29.09.2024.