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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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vom Regiment getrennt worden, kam jetzt herbei und brachte es zu Wege,
uns oder doch einige von uns nach dem Kamm des Hügels zu führen, um
uns, wie er sagte, wieder zu formiren. Dort aber begegneten wir einem gro¬
ßen Haufen von Freiwilligen, Milizen und Wagen, die alle in Hast von dem
großen Hause her flüchteten, und wir wurden von dem Strom wohl eine
Meile weit fortgerissen, ehe wir Halt machen konnten. Endlich führte uns
der Adjutant aus der Linie der Flüchtlinge heraus nach einer offnen Stelle,
wo sich die Ueberreste der Compagnie wieder ordneten. Indem er uns stehen
bleiben hieß, ritt er weg, um Befehle zu holen und die Stellung des Restes
der Brigade ausfindig zu machen.

Von diesem Punkte, einer Abzweigung des Hauptplateaus, sahen wir
durch das trübe Zwielicht auf die Wahlstatt drunten hinab, wo das Ar¬
tilleriefeuer noch fortwüthete. Wir konnten die Blitze aus den Kanonen auf
beiden Seiten sehen, und dann und wann kam eine verirrte Granate sau¬
send herauf, um in unserer Nähe zu zerspringen, aber vom Knall des Mus¬
ketenfeuers hörte man in dieser Entfernung nichts. Dieser Halt gab uns
zum ersten Mal Zeit, zu überlegen, was geschehen war. Der lange Tag der
Erwartung war von der Aufregung der Schlacht gefolgt gewesen, und wenn
jede Minute unsere letzte sein kann, denkt man nicht viel an andere Leute,
und ebenso, wenn man jemand mit einer Büchse gegenübersteht, hat man
nicht Zeit, eine Prüfung anzustellen, ob man selbst oder ob er der Eindring¬
ling ist oder ob man für Haus und Heerd kämpft. Alles Fechten ist, was
die Empfindung angeht, ziemlich dieselbe Sache, vermuthe ich, wenn es einmal
beginnt. Aber jetzt hatten wir Zeit zum Nachdenken, und obwohl wir noch
nicht ganz begriffen, wie weit der Tag gegen uns entschieden war, mußte doch
schon ein unbehagliches Gefühl der Selbstverurtheilung die meisten von uns
ergriffen haben, während wir vor Allem jetzt uns zu verdeutlichen begannen,
was der Verlust dieser Schlacht für unser Vaterland bedeutete. Dann wu߬
ten wir nicht, was aus allen unsern verwundeten Kameraden geworden.
Auch machte sich nach der Anstrengung und Aufregung eine Reaction der
Nerven geltend, und ich merkte jetzt, daß außer der Bayonnetwunde in mei¬
nem Schenkel ich auch eine Kugel durch den linken Arm bekommen hatte,
hart unter der Schulter und neben dem Knochen. Ich besinne mich, daß ich
etwas wie einen Schlag gefühlt hatte, gerade wie wir die Feldgasse räumten,
aber die Wunde blieb unbemerkt bis jetzt, wo die Blutung aufgehört hatte
und das Hemd däranklebte.

Diese halbe Stunde schien mir ein Jahrhundert lang, und während wir
auf diesem Hügelvorsprung standen, erzählten das endlose Trapp trapp der
Mannschaften und das Rumpeln der Karren, das an uns vorbeiging, ihre
eigne Geschichte. Die ganze Armee war auf dem Rückzüge. Endlich konnten


vom Regiment getrennt worden, kam jetzt herbei und brachte es zu Wege,
uns oder doch einige von uns nach dem Kamm des Hügels zu führen, um
uns, wie er sagte, wieder zu formiren. Dort aber begegneten wir einem gro¬
ßen Haufen von Freiwilligen, Milizen und Wagen, die alle in Hast von dem
großen Hause her flüchteten, und wir wurden von dem Strom wohl eine
Meile weit fortgerissen, ehe wir Halt machen konnten. Endlich führte uns
der Adjutant aus der Linie der Flüchtlinge heraus nach einer offnen Stelle,
wo sich die Ueberreste der Compagnie wieder ordneten. Indem er uns stehen
bleiben hieß, ritt er weg, um Befehle zu holen und die Stellung des Restes
der Brigade ausfindig zu machen.

Von diesem Punkte, einer Abzweigung des Hauptplateaus, sahen wir
durch das trübe Zwielicht auf die Wahlstatt drunten hinab, wo das Ar¬
tilleriefeuer noch fortwüthete. Wir konnten die Blitze aus den Kanonen auf
beiden Seiten sehen, und dann und wann kam eine verirrte Granate sau¬
send herauf, um in unserer Nähe zu zerspringen, aber vom Knall des Mus¬
ketenfeuers hörte man in dieser Entfernung nichts. Dieser Halt gab uns
zum ersten Mal Zeit, zu überlegen, was geschehen war. Der lange Tag der
Erwartung war von der Aufregung der Schlacht gefolgt gewesen, und wenn
jede Minute unsere letzte sein kann, denkt man nicht viel an andere Leute,
und ebenso, wenn man jemand mit einer Büchse gegenübersteht, hat man
nicht Zeit, eine Prüfung anzustellen, ob man selbst oder ob er der Eindring¬
ling ist oder ob man für Haus und Heerd kämpft. Alles Fechten ist, was
die Empfindung angeht, ziemlich dieselbe Sache, vermuthe ich, wenn es einmal
beginnt. Aber jetzt hatten wir Zeit zum Nachdenken, und obwohl wir noch
nicht ganz begriffen, wie weit der Tag gegen uns entschieden war, mußte doch
schon ein unbehagliches Gefühl der Selbstverurtheilung die meisten von uns
ergriffen haben, während wir vor Allem jetzt uns zu verdeutlichen begannen,
was der Verlust dieser Schlacht für unser Vaterland bedeutete. Dann wu߬
ten wir nicht, was aus allen unsern verwundeten Kameraden geworden.
Auch machte sich nach der Anstrengung und Aufregung eine Reaction der
Nerven geltend, und ich merkte jetzt, daß außer der Bayonnetwunde in mei¬
nem Schenkel ich auch eine Kugel durch den linken Arm bekommen hatte,
hart unter der Schulter und neben dem Knochen. Ich besinne mich, daß ich
etwas wie einen Schlag gefühlt hatte, gerade wie wir die Feldgasse räumten,
aber die Wunde blieb unbemerkt bis jetzt, wo die Blutung aufgehört hatte
und das Hemd däranklebte.

Diese halbe Stunde schien mir ein Jahrhundert lang, und während wir
auf diesem Hügelvorsprung standen, erzählten das endlose Trapp trapp der
Mannschaften und das Rumpeln der Karren, das an uns vorbeiging, ihre
eigne Geschichte. Die ganze Armee war auf dem Rückzüge. Endlich konnten


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[0430] vom Regiment getrennt worden, kam jetzt herbei und brachte es zu Wege, uns oder doch einige von uns nach dem Kamm des Hügels zu führen, um uns, wie er sagte, wieder zu formiren. Dort aber begegneten wir einem gro¬ ßen Haufen von Freiwilligen, Milizen und Wagen, die alle in Hast von dem großen Hause her flüchteten, und wir wurden von dem Strom wohl eine Meile weit fortgerissen, ehe wir Halt machen konnten. Endlich führte uns der Adjutant aus der Linie der Flüchtlinge heraus nach einer offnen Stelle, wo sich die Ueberreste der Compagnie wieder ordneten. Indem er uns stehen bleiben hieß, ritt er weg, um Befehle zu holen und die Stellung des Restes der Brigade ausfindig zu machen. Von diesem Punkte, einer Abzweigung des Hauptplateaus, sahen wir durch das trübe Zwielicht auf die Wahlstatt drunten hinab, wo das Ar¬ tilleriefeuer noch fortwüthete. Wir konnten die Blitze aus den Kanonen auf beiden Seiten sehen, und dann und wann kam eine verirrte Granate sau¬ send herauf, um in unserer Nähe zu zerspringen, aber vom Knall des Mus¬ ketenfeuers hörte man in dieser Entfernung nichts. Dieser Halt gab uns zum ersten Mal Zeit, zu überlegen, was geschehen war. Der lange Tag der Erwartung war von der Aufregung der Schlacht gefolgt gewesen, und wenn jede Minute unsere letzte sein kann, denkt man nicht viel an andere Leute, und ebenso, wenn man jemand mit einer Büchse gegenübersteht, hat man nicht Zeit, eine Prüfung anzustellen, ob man selbst oder ob er der Eindring¬ ling ist oder ob man für Haus und Heerd kämpft. Alles Fechten ist, was die Empfindung angeht, ziemlich dieselbe Sache, vermuthe ich, wenn es einmal beginnt. Aber jetzt hatten wir Zeit zum Nachdenken, und obwohl wir noch nicht ganz begriffen, wie weit der Tag gegen uns entschieden war, mußte doch schon ein unbehagliches Gefühl der Selbstverurtheilung die meisten von uns ergriffen haben, während wir vor Allem jetzt uns zu verdeutlichen begannen, was der Verlust dieser Schlacht für unser Vaterland bedeutete. Dann wu߬ ten wir nicht, was aus allen unsern verwundeten Kameraden geworden. Auch machte sich nach der Anstrengung und Aufregung eine Reaction der Nerven geltend, und ich merkte jetzt, daß außer der Bayonnetwunde in mei¬ nem Schenkel ich auch eine Kugel durch den linken Arm bekommen hatte, hart unter der Schulter und neben dem Knochen. Ich besinne mich, daß ich etwas wie einen Schlag gefühlt hatte, gerade wie wir die Feldgasse räumten, aber die Wunde blieb unbemerkt bis jetzt, wo die Blutung aufgehört hatte und das Hemd däranklebte. Diese halbe Stunde schien mir ein Jahrhundert lang, und während wir auf diesem Hügelvorsprung standen, erzählten das endlose Trapp trapp der Mannschaften und das Rumpeln der Karren, das an uns vorbeiging, ihre eigne Geschichte. Die ganze Armee war auf dem Rückzüge. Endlich konnten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/430>, abgerufen am 28.12.2024.