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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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eine Restauration der Kirche zu unternehmen, und hierbei entdeckte man auch
den alten, aus kleinen Ziegelwürfeln bestehenden Fußboden und befreite ihn
von dem später darüber gebreiteten Paviment. Ebenso stellt man jetzt die
stark verunzierte Krypte vollständig nach dem alten Muster wieder her; die
Fresken des Giotto, Jacopo del Casentino und des Laurati, welche man von
der darüber gestrichenen Tünche wieder befreite, sind und bleiben leider zum
größten Theil verdorben. -- Eine abermalige Vergrößerung. erhielt die Kirche
durch den Bischof Teodaldo, welcher im Jahre 1016 die Vorhallen wegreißen
und eine glatte Fassade mit Attika herstellen ließ. 1216 wurde sie durch die
gegenwärtige Fassade ersetzt. -- An den Chor dieser Kirche stößt der freundliche
Marktplatz der Stadt, an dessen eine Seite die zierliche Fassade des Miseri-
cordiagebäudes anstößt, während eine seiner Langseiten vom Porticus des
Vasari, der den Uffizien in Florenz verwandt ist, abgeschlossen wird. In
der Mitte des Platzes sprudelt ein hübscher barocker Brunnen, zu welchem
das Wasser auf Aquäducten geführt wird. Ueberhaupt ist Arezzo sehr gut
mit Wasser versorgt, und besitzt jedes Haus einen eigenen Brunnen.

Die Fassade des Misericordiagebäudes ist eins der interessantesten und
augenfälligsten Beispiele des Uebergangs der toskanischen Gothik in die Re¬
naissance. -- Während man das Portal und die Fenster daneben wegen seiner
Spitzbogen und Details noch als gothisch betrachten muß, sind die Nischen
seitlich vom Thorbogen, sowie der ganze obere Theil, also Ghirlandenfries,
Consolen, Ballustrade, Säulengalerie :c. vorwiegend im Renaissancestil ge¬
halten. Gleichwohl lassen sich ebensogut unten Motive aus der Renaissance,
wie oben aus der toskanischen Gothik nachweisen, wie denn überhaupt der
Uebergangsproeeß des einen Stils in den andern insofern ein sehr compli-
cirter war, als die Renaissance nicht mit einem Mal barsch mit der Gothik
abbrach, fondern vorzugsweise an diejenigen antiken Motive anknüpfte, die
sich schon in letztrer befanden, indem sie selbst manches Nichtantike dabei in
den Kauf nahm. Trotz dieser eigenthümlichen Stilmischung, die der genann¬
ten Fassade innewohnt, macht sie doch durch die naive und reiche Gliederung
sowie durch die phantasievolle Anmuth des Details einen ungemein angeneh¬
men Eindruck, wenn sie auch natürlich nicht zur Nachahmung zu empfehlen
ist. Doch hege ich keinen Zweifel, daß die ganze Fassade von einem und
demselben Meister, Niccolo d'Arezzo, herrührt, der hier also unter der Hand
an einer und derselben Arbeit den weltgeschichtlichen Schritt von der Gothik
zur Renaissance that. Und Niccolo von Arezzo war es auch ohne Zweifel,
wie sich aus seinem Leben, wie aus seiner ganzen Thätigkeit ergiebt, der
zuerst die florentinischen Künstler auf ein erneutes Studium von Rom und
dessen Kunstschätzen hinwies. An diesem Portal, wie an den Fenstern des
Domchors und der Loggia ti San Michele in Florenz, befinden sich die man-


eine Restauration der Kirche zu unternehmen, und hierbei entdeckte man auch
den alten, aus kleinen Ziegelwürfeln bestehenden Fußboden und befreite ihn
von dem später darüber gebreiteten Paviment. Ebenso stellt man jetzt die
stark verunzierte Krypte vollständig nach dem alten Muster wieder her; die
Fresken des Giotto, Jacopo del Casentino und des Laurati, welche man von
der darüber gestrichenen Tünche wieder befreite, sind und bleiben leider zum
größten Theil verdorben. — Eine abermalige Vergrößerung. erhielt die Kirche
durch den Bischof Teodaldo, welcher im Jahre 1016 die Vorhallen wegreißen
und eine glatte Fassade mit Attika herstellen ließ. 1216 wurde sie durch die
gegenwärtige Fassade ersetzt. — An den Chor dieser Kirche stößt der freundliche
Marktplatz der Stadt, an dessen eine Seite die zierliche Fassade des Miseri-
cordiagebäudes anstößt, während eine seiner Langseiten vom Porticus des
Vasari, der den Uffizien in Florenz verwandt ist, abgeschlossen wird. In
der Mitte des Platzes sprudelt ein hübscher barocker Brunnen, zu welchem
das Wasser auf Aquäducten geführt wird. Ueberhaupt ist Arezzo sehr gut
mit Wasser versorgt, und besitzt jedes Haus einen eigenen Brunnen.

Die Fassade des Misericordiagebäudes ist eins der interessantesten und
augenfälligsten Beispiele des Uebergangs der toskanischen Gothik in die Re¬
naissance. — Während man das Portal und die Fenster daneben wegen seiner
Spitzbogen und Details noch als gothisch betrachten muß, sind die Nischen
seitlich vom Thorbogen, sowie der ganze obere Theil, also Ghirlandenfries,
Consolen, Ballustrade, Säulengalerie :c. vorwiegend im Renaissancestil ge¬
halten. Gleichwohl lassen sich ebensogut unten Motive aus der Renaissance,
wie oben aus der toskanischen Gothik nachweisen, wie denn überhaupt der
Uebergangsproeeß des einen Stils in den andern insofern ein sehr compli-
cirter war, als die Renaissance nicht mit einem Mal barsch mit der Gothik
abbrach, fondern vorzugsweise an diejenigen antiken Motive anknüpfte, die
sich schon in letztrer befanden, indem sie selbst manches Nichtantike dabei in
den Kauf nahm. Trotz dieser eigenthümlichen Stilmischung, die der genann¬
ten Fassade innewohnt, macht sie doch durch die naive und reiche Gliederung
sowie durch die phantasievolle Anmuth des Details einen ungemein angeneh¬
men Eindruck, wenn sie auch natürlich nicht zur Nachahmung zu empfehlen
ist. Doch hege ich keinen Zweifel, daß die ganze Fassade von einem und
demselben Meister, Niccolo d'Arezzo, herrührt, der hier also unter der Hand
an einer und derselben Arbeit den weltgeschichtlichen Schritt von der Gothik
zur Renaissance that. Und Niccolo von Arezzo war es auch ohne Zweifel,
wie sich aus seinem Leben, wie aus seiner ganzen Thätigkeit ergiebt, der
zuerst die florentinischen Künstler auf ein erneutes Studium von Rom und
dessen Kunstschätzen hinwies. An diesem Portal, wie an den Fenstern des
Domchors und der Loggia ti San Michele in Florenz, befinden sich die man-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/371>, abgerufen am 29.09.2024.