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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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schmutzigen Städten gehört, wie der Deutsche sich gewöhnlich alle italienischen
Städte ohne Ausnahme denkt, sondern daß sie an Sauberkeit, durch die
Sorgfalt der Privaten wie der Stadtbehörden sich den reinlichsten Städten
des Nordens an die Seite stellt. Ich machte mich sofort auf die Kunstwan¬
derung durch die Stadt und gelangte zunächst vor die bizarre Fassade der
Kirche 8. Naria öeUa. ?i<zvs, die, trotz der mit Recht gerügten Mängel, doch
beim ersten Anblick durch die 3 Stockwerke mit achtzig Säulen und Karyatiden
romanischer Form einen bedeutenden Eindruck auf die Phantasie macht. Sie
wurde, sammt den Sculpturen über den 3 Portalen, wahrscheinlich von Mar-
chionne im Jahre 1216 errichtet, wie wenigstens eine Inschrift an einer der
Sculpturen anzudeuten scheint. Diese Sculpturen selbst sind jedoch im Stil
gänzlich verschieden unter einander. Die Sculpturen an der Bogenlaubung
des Mittelportals, welche in 12 Genredarstellungen aus dem Leben des Land¬
manns (ungefähr nach Art der Kalendervignetten) die 12 Jahreszeiten ver¬
anschaulichen, gehören durchaus einer Richtung der romanischen Sculptur
Italiens zu, die sich am besten als lombardische bezeichnen läßt. Dieselbe
unterscheidet sich von der byzantinischen Richtung durch eine größere Run¬
dung der Formen, von der antikisiren d-naus chen durch eine größere
Unmittelbarkeit der Lebensauffassung, sowie durch Verwendung mittelalter¬
licher Gewandung und Gesittung. Sie stammt nach unsrer Ansicht von
einem Anstoß, den das germanische Element der Longobarden der bilden¬
den Kunst in Italien gab. -- Die Reliefs in der Thürlünette rechts, mit
einer Taufe Christi, sowie links, mit der segnenden Madonna,
sind dagegen ganz byzantinisch gehalten, wie sich aus der strengen Symmetrie
ihrer Composition, aus dem flachen und gleichmäßigen Hervorragen des Re¬
liefs vom Hintergrund, sowie aus den scharf eingeschnittenen und bogenför¬
mig-parallelen Falten ergiebt. -- Der gewaltig hohe, viereckige Thurm, ge¬
nannt "mit den hundert Löchern," ist gleichfalls mit Säulen in den
Fensteröffnungen geschmückt, und ward gegen Ende des 13. Jahrhunderts be¬
gonnen und um 1330 vollendet. Der Thurm, die Fassade, sowie der ganze
Langbau wurden jedoch erst später an die Kirche angebaut. Ursprünglich
bestand bloß die Krypte, welche im Jahre 700 zur Aufnahme des Stadtheili¬
gen Se. Donatus erbaut wurde. 880 wurde die Kirche vergrößert, indem
die 3 Langschiffe und die Kuppel hinzugefügt wurden. Ein Querschiff existirt
nicht, indem die Langschiffe links und rechts neben der Kuppel fortlaufen und
in flachwandigen Capellen neben der Apsis endigen. -- Dachstuhl und Kup¬
pel waren ursprünglich blos von Holz, wurden aber im Jahre 1520 mit
Tonnengewölben und Rundkuppel aus Stuck verdeckt. Dadurch entstand ein
Schub, der die Kirche um 24 (Zentimeter auseinandertrieb. Die dadurch
herbeigeführte Gefahr des Einsturzes veranlaßte die Stadtbehörde von Arezzo,


schmutzigen Städten gehört, wie der Deutsche sich gewöhnlich alle italienischen
Städte ohne Ausnahme denkt, sondern daß sie an Sauberkeit, durch die
Sorgfalt der Privaten wie der Stadtbehörden sich den reinlichsten Städten
des Nordens an die Seite stellt. Ich machte mich sofort auf die Kunstwan¬
derung durch die Stadt und gelangte zunächst vor die bizarre Fassade der
Kirche 8. Naria öeUa. ?i<zvs, die, trotz der mit Recht gerügten Mängel, doch
beim ersten Anblick durch die 3 Stockwerke mit achtzig Säulen und Karyatiden
romanischer Form einen bedeutenden Eindruck auf die Phantasie macht. Sie
wurde, sammt den Sculpturen über den 3 Portalen, wahrscheinlich von Mar-
chionne im Jahre 1216 errichtet, wie wenigstens eine Inschrift an einer der
Sculpturen anzudeuten scheint. Diese Sculpturen selbst sind jedoch im Stil
gänzlich verschieden unter einander. Die Sculpturen an der Bogenlaubung
des Mittelportals, welche in 12 Genredarstellungen aus dem Leben des Land¬
manns (ungefähr nach Art der Kalendervignetten) die 12 Jahreszeiten ver¬
anschaulichen, gehören durchaus einer Richtung der romanischen Sculptur
Italiens zu, die sich am besten als lombardische bezeichnen läßt. Dieselbe
unterscheidet sich von der byzantinischen Richtung durch eine größere Run¬
dung der Formen, von der antikisiren d-naus chen durch eine größere
Unmittelbarkeit der Lebensauffassung, sowie durch Verwendung mittelalter¬
licher Gewandung und Gesittung. Sie stammt nach unsrer Ansicht von
einem Anstoß, den das germanische Element der Longobarden der bilden¬
den Kunst in Italien gab. — Die Reliefs in der Thürlünette rechts, mit
einer Taufe Christi, sowie links, mit der segnenden Madonna,
sind dagegen ganz byzantinisch gehalten, wie sich aus der strengen Symmetrie
ihrer Composition, aus dem flachen und gleichmäßigen Hervorragen des Re¬
liefs vom Hintergrund, sowie aus den scharf eingeschnittenen und bogenför¬
mig-parallelen Falten ergiebt. — Der gewaltig hohe, viereckige Thurm, ge¬
nannt „mit den hundert Löchern," ist gleichfalls mit Säulen in den
Fensteröffnungen geschmückt, und ward gegen Ende des 13. Jahrhunderts be¬
gonnen und um 1330 vollendet. Der Thurm, die Fassade, sowie der ganze
Langbau wurden jedoch erst später an die Kirche angebaut. Ursprünglich
bestand bloß die Krypte, welche im Jahre 700 zur Aufnahme des Stadtheili¬
gen Se. Donatus erbaut wurde. 880 wurde die Kirche vergrößert, indem
die 3 Langschiffe und die Kuppel hinzugefügt wurden. Ein Querschiff existirt
nicht, indem die Langschiffe links und rechts neben der Kuppel fortlaufen und
in flachwandigen Capellen neben der Apsis endigen. — Dachstuhl und Kup¬
pel waren ursprünglich blos von Holz, wurden aber im Jahre 1520 mit
Tonnengewölben und Rundkuppel aus Stuck verdeckt. Dadurch entstand ein
Schub, der die Kirche um 24 (Zentimeter auseinandertrieb. Die dadurch
herbeigeführte Gefahr des Einsturzes veranlaßte die Stadtbehörde von Arezzo,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/370>, abgerufen am 28.12.2024.