Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

denjenigen vorbehalten, die sie zum Zwecke weiterer Studien zu lernen ange¬
fangen hatten. Es existirte nicht der geringste Begriff von einer volksthüm-
lichen Erziehung, die wohl eine Vorbereitung zu höheren Studien sein kann,
aber auch in sich selber gut ist, und dazu dient den Verstand zu wecken, und
zugleich die Angewöhnung zur Ordnung und zum Fleiße allgemein zu ver¬
breiten, in Einem Worte, das ganze Volk zu erziehen.

Wenn einer daher kaum lesen und die Feder in der Hand halten konnte,
so fing man alsbald mit dem Studium des Lateinischen an und zwar mit
der sogenannten ^una (Fi'iZ.mag.tieae, einer schreckenerregenden Reihe von
Declinationen und Conjugationen. Der Schüler lernte jene Worte auswen¬
dig, ohne sie zu verstehen, und schrieb Hefte auf Hefte voll, Worte declinirend
und Verden eonjugirend, deren Gebrauch er erst nach einigen Jahren kennen
lernte; es ist daher gar nicht zu sagen, wie sehr die armen Kinder das Stu¬
dium der ^arna, verabscheuten. Wenn sie die Flexionen inne hatten, so ging
es an die Syntax, und das genügte, um in das Collegio Romano ausgenom¬
men zu werden. So kam es, daß die Kinder, die sich zur Aufnahme in die
erste Gymnasialclasse oder in die Realschule meldeten, wohl die lateinischen
Declinationen kannten, aber nicht den kleinsten italienischen Brief oder eine
kleine Erzählung zu schreiben im Stande waren. Soviel man nach den ge¬
wonnenen Resultaten urtheilen kann, war ihre erste italienische Composition
diejenige, die sie für die Prüfung verfertigen mußten.

Alles trug noch dazu bei, diesen Unterricht zu verzögern und ihn un¬
fruchtbar zu machen. Das Lesen lernte man nach der Buchstabirmethode,
d. h. die Kinder mußten erst die ganze Reihe des Alphabets lernen, dann
fing man an, die Buchstaben zu verbinden und zu sillabiren, und so ging es
allgemach weiter; eine zeitraubende und mühsame Methode, die heute in allen
Schulen aufgegeben ist. Das Schreiben lernte man zugleich mit dem Lesen,
wie es in den guten Elementarschulen gebräuchlich war. Nachdem der Schü¬
ler mittelmäßig Lesen gelernt hatte, ließ man ihn mechanisch ein geschriebenes
Alphabet nachschreiben, ohne ihm je das Verhältniß des gesprochenen Wortes
mit dem geschriebenen klar zu machen. Später fing man einige grammatische
Uebungen an; aber anstatt den Zöglingen klar zu machen, was sie lernen
sollten, begnügte sich auch hier der Lehrer damit, ihnen täglich einen Abschnitt
der kleinen Grammatik (^rammÄtiedetta) zum Auswendiglernen anzuweisen
und sich hernach zu überzeugen, ob es geschehen sei. Ich habe diese Gram¬
matik, die allgemein im Gebrauch war, unter den Augen und finde darin
folgende Sätze:

Fr. Was heißt Rede nach grammatikalischen Begriff?

A. Es heißt eine Verbindung von Worten, mittels welcher wir die


denjenigen vorbehalten, die sie zum Zwecke weiterer Studien zu lernen ange¬
fangen hatten. Es existirte nicht der geringste Begriff von einer volksthüm-
lichen Erziehung, die wohl eine Vorbereitung zu höheren Studien sein kann,
aber auch in sich selber gut ist, und dazu dient den Verstand zu wecken, und
zugleich die Angewöhnung zur Ordnung und zum Fleiße allgemein zu ver¬
breiten, in Einem Worte, das ganze Volk zu erziehen.

Wenn einer daher kaum lesen und die Feder in der Hand halten konnte,
so fing man alsbald mit dem Studium des Lateinischen an und zwar mit
der sogenannten ^una (Fi'iZ.mag.tieae, einer schreckenerregenden Reihe von
Declinationen und Conjugationen. Der Schüler lernte jene Worte auswen¬
dig, ohne sie zu verstehen, und schrieb Hefte auf Hefte voll, Worte declinirend
und Verden eonjugirend, deren Gebrauch er erst nach einigen Jahren kennen
lernte; es ist daher gar nicht zu sagen, wie sehr die armen Kinder das Stu¬
dium der ^arna, verabscheuten. Wenn sie die Flexionen inne hatten, so ging
es an die Syntax, und das genügte, um in das Collegio Romano ausgenom¬
men zu werden. So kam es, daß die Kinder, die sich zur Aufnahme in die
erste Gymnasialclasse oder in die Realschule meldeten, wohl die lateinischen
Declinationen kannten, aber nicht den kleinsten italienischen Brief oder eine
kleine Erzählung zu schreiben im Stande waren. Soviel man nach den ge¬
wonnenen Resultaten urtheilen kann, war ihre erste italienische Composition
diejenige, die sie für die Prüfung verfertigen mußten.

Alles trug noch dazu bei, diesen Unterricht zu verzögern und ihn un¬
fruchtbar zu machen. Das Lesen lernte man nach der Buchstabirmethode,
d. h. die Kinder mußten erst die ganze Reihe des Alphabets lernen, dann
fing man an, die Buchstaben zu verbinden und zu sillabiren, und so ging es
allgemach weiter; eine zeitraubende und mühsame Methode, die heute in allen
Schulen aufgegeben ist. Das Schreiben lernte man zugleich mit dem Lesen,
wie es in den guten Elementarschulen gebräuchlich war. Nachdem der Schü¬
ler mittelmäßig Lesen gelernt hatte, ließ man ihn mechanisch ein geschriebenes
Alphabet nachschreiben, ohne ihm je das Verhältniß des gesprochenen Wortes
mit dem geschriebenen klar zu machen. Später fing man einige grammatische
Uebungen an; aber anstatt den Zöglingen klar zu machen, was sie lernen
sollten, begnügte sich auch hier der Lehrer damit, ihnen täglich einen Abschnitt
der kleinen Grammatik (^rammÄtiedetta) zum Auswendiglernen anzuweisen
und sich hernach zu überzeugen, ob es geschehen sei. Ich habe diese Gram¬
matik, die allgemein im Gebrauch war, unter den Augen und finde darin
folgende Sätze:

Fr. Was heißt Rede nach grammatikalischen Begriff?

A. Es heißt eine Verbindung von Worten, mittels welcher wir die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126049"/>
          <p xml:id="ID_845" prev="#ID_844"> denjenigen vorbehalten, die sie zum Zwecke weiterer Studien zu lernen ange¬<lb/>
fangen hatten. Es existirte nicht der geringste Begriff von einer volksthüm-<lb/>
lichen Erziehung, die wohl eine Vorbereitung zu höheren Studien sein kann,<lb/>
aber auch in sich selber gut ist, und dazu dient den Verstand zu wecken, und<lb/>
zugleich die Angewöhnung zur Ordnung und zum Fleiße allgemein zu ver¬<lb/>
breiten, in Einem Worte, das ganze Volk zu erziehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_846"> Wenn einer daher kaum lesen und die Feder in der Hand halten konnte,<lb/>
so fing man alsbald mit dem Studium des Lateinischen an und zwar mit<lb/>
der sogenannten ^una (Fi'iZ.mag.tieae, einer schreckenerregenden Reihe von<lb/>
Declinationen und Conjugationen. Der Schüler lernte jene Worte auswen¬<lb/>
dig, ohne sie zu verstehen, und schrieb Hefte auf Hefte voll, Worte declinirend<lb/>
und Verden eonjugirend, deren Gebrauch er erst nach einigen Jahren kennen<lb/>
lernte; es ist daher gar nicht zu sagen, wie sehr die armen Kinder das Stu¬<lb/>
dium der ^arna, verabscheuten. Wenn sie die Flexionen inne hatten, so ging<lb/>
es an die Syntax, und das genügte, um in das Collegio Romano ausgenom¬<lb/>
men zu werden. So kam es, daß die Kinder, die sich zur Aufnahme in die<lb/>
erste Gymnasialclasse oder in die Realschule meldeten, wohl die lateinischen<lb/>
Declinationen kannten, aber nicht den kleinsten italienischen Brief oder eine<lb/>
kleine Erzählung zu schreiben im Stande waren. Soviel man nach den ge¬<lb/>
wonnenen Resultaten urtheilen kann, war ihre erste italienische Composition<lb/>
diejenige, die sie für die Prüfung verfertigen mußten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_847"> Alles trug noch dazu bei, diesen Unterricht zu verzögern und ihn un¬<lb/>
fruchtbar zu machen. Das Lesen lernte man nach der Buchstabirmethode,<lb/>
d. h. die Kinder mußten erst die ganze Reihe des Alphabets lernen, dann<lb/>
fing man an, die Buchstaben zu verbinden und zu sillabiren, und so ging es<lb/>
allgemach weiter; eine zeitraubende und mühsame Methode, die heute in allen<lb/>
Schulen aufgegeben ist. Das Schreiben lernte man zugleich mit dem Lesen,<lb/>
wie es in den guten Elementarschulen gebräuchlich war. Nachdem der Schü¬<lb/>
ler mittelmäßig Lesen gelernt hatte, ließ man ihn mechanisch ein geschriebenes<lb/>
Alphabet nachschreiben, ohne ihm je das Verhältniß des gesprochenen Wortes<lb/>
mit dem geschriebenen klar zu machen. Später fing man einige grammatische<lb/>
Uebungen an; aber anstatt den Zöglingen klar zu machen, was sie lernen<lb/>
sollten, begnügte sich auch hier der Lehrer damit, ihnen täglich einen Abschnitt<lb/>
der kleinen Grammatik (^rammÄtiedetta) zum Auswendiglernen anzuweisen<lb/>
und sich hernach zu überzeugen, ob es geschehen sei. Ich habe diese Gram¬<lb/>
matik, die allgemein im Gebrauch war, unter den Augen und finde darin<lb/>
folgende Sätze:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_848"> Fr. Was heißt Rede nach grammatikalischen Begriff?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_849"> A. Es heißt eine Verbindung von Worten, mittels welcher wir die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0267] denjenigen vorbehalten, die sie zum Zwecke weiterer Studien zu lernen ange¬ fangen hatten. Es existirte nicht der geringste Begriff von einer volksthüm- lichen Erziehung, die wohl eine Vorbereitung zu höheren Studien sein kann, aber auch in sich selber gut ist, und dazu dient den Verstand zu wecken, und zugleich die Angewöhnung zur Ordnung und zum Fleiße allgemein zu ver¬ breiten, in Einem Worte, das ganze Volk zu erziehen. Wenn einer daher kaum lesen und die Feder in der Hand halten konnte, so fing man alsbald mit dem Studium des Lateinischen an und zwar mit der sogenannten ^una (Fi'iZ.mag.tieae, einer schreckenerregenden Reihe von Declinationen und Conjugationen. Der Schüler lernte jene Worte auswen¬ dig, ohne sie zu verstehen, und schrieb Hefte auf Hefte voll, Worte declinirend und Verden eonjugirend, deren Gebrauch er erst nach einigen Jahren kennen lernte; es ist daher gar nicht zu sagen, wie sehr die armen Kinder das Stu¬ dium der ^arna, verabscheuten. Wenn sie die Flexionen inne hatten, so ging es an die Syntax, und das genügte, um in das Collegio Romano ausgenom¬ men zu werden. So kam es, daß die Kinder, die sich zur Aufnahme in die erste Gymnasialclasse oder in die Realschule meldeten, wohl die lateinischen Declinationen kannten, aber nicht den kleinsten italienischen Brief oder eine kleine Erzählung zu schreiben im Stande waren. Soviel man nach den ge¬ wonnenen Resultaten urtheilen kann, war ihre erste italienische Composition diejenige, die sie für die Prüfung verfertigen mußten. Alles trug noch dazu bei, diesen Unterricht zu verzögern und ihn un¬ fruchtbar zu machen. Das Lesen lernte man nach der Buchstabirmethode, d. h. die Kinder mußten erst die ganze Reihe des Alphabets lernen, dann fing man an, die Buchstaben zu verbinden und zu sillabiren, und so ging es allgemach weiter; eine zeitraubende und mühsame Methode, die heute in allen Schulen aufgegeben ist. Das Schreiben lernte man zugleich mit dem Lesen, wie es in den guten Elementarschulen gebräuchlich war. Nachdem der Schü¬ ler mittelmäßig Lesen gelernt hatte, ließ man ihn mechanisch ein geschriebenes Alphabet nachschreiben, ohne ihm je das Verhältniß des gesprochenen Wortes mit dem geschriebenen klar zu machen. Später fing man einige grammatische Uebungen an; aber anstatt den Zöglingen klar zu machen, was sie lernen sollten, begnügte sich auch hier der Lehrer damit, ihnen täglich einen Abschnitt der kleinen Grammatik (^rammÄtiedetta) zum Auswendiglernen anzuweisen und sich hernach zu überzeugen, ob es geschehen sei. Ich habe diese Gram¬ matik, die allgemein im Gebrauch war, unter den Augen und finde darin folgende Sätze: Fr. Was heißt Rede nach grammatikalischen Begriff? A. Es heißt eine Verbindung von Worten, mittels welcher wir die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/267
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/267>, abgerufen am 29.12.2024.