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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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auf die Fayade und die Thürme 1273 vollendet, nachdem man 260 Jahre
daran gebaut hatte. An der Vollendung der prachtvollen Fa?abe arbeitete
Erwin von Steinbach 1277--1318 und noch zwei Jahrhunderte vergingen,
ehe dies colossale Denkmal deutscher Kunst seine jetzige Vollendung erhielt, an
dem alle Epochen mittelalterlicher Baukunst von dem romanischen Stile bis
zu der späteren Gothik gearbeitet haben. Jene Verfassung, welche den Rath
aus allen drei Ständen durch Wahl zusammensetzte, blieb die Grundlage; sie
erhielt sich durch die schweren Zeiten der Judenverfolgungen und der Pest
im 14. Jahrhundert, sie überdauerte in den Formen deutscher Reichsfreiheit
sogar die gewaltsame französische Besitzergreifung, weil in der Capitulation
die Rechte und Privilegien der Stadt gewährleistet waren, und fand erst, als
sie sich ohnehin überlebt hatte, in der Municipalität der französischen Repu¬
blik ihr Ende. Durch sie ward möglich, trotz des Wechsels der Aemter das
Gute stets zu erhalten und das hohe Ansehen zu sichern, dessen sich die
Reichsstadt durch alle Zeiten erfreute.

Wie Straßburg in seinem Gemeinwesen Muster und Vorbild für viele
deutsche Städte geworden ist, fo hat es auch durch Geistesarbeit die Zugehörig¬
keit zur Nation bethätigt; sein Name glänzt in allen wichtigen Epochen.
Ich will nicht von dem Mittelalter reden, in welchem die Gleichheit der Er¬
ziehung und des Unterrichts auch gleichartige Bildung herbeiführte und
zwischen romanischen und germanischen Völkern noch keinen Unterschied zeigte.
Der Gelehrte ist damals überall Kleriker. Doch wollen wir nicht vergessen,
wie Straßburg seit dem 13. Jahrhundert in der deutschen ritterlichen Dich¬
tung hervortritt durch den Stadtschreiber Gottfried 1207, wie unter den My¬
stikern Meister Eckarts Schüler Johannes Tauler (-1- 1361) glänzt und unter
den Geschichtsschreibern der Chorherr Friedrich Closener und Jacob Twinger
von Königshöfen, der die locale Geschichte mit der allgemeinen deutschen
und der Universalgeschichte in so ansprechender Weise zu verbinden ver¬
standen hat.

Im 14. Jahrhundert erwachte die Welt aus langem Schlafe und reckte,
wie Erasmus sagt, die Glieder, die ein schwerer Traum gefangen hielt. Die
Zeit der Renaissance beginnt in Italien durch die Rückkehr zur römischen
Litteratur seit Petrarca und Boeaccio; einen weiteren Fortschritt bezeichnet die
Bekanntschaft mit der Sprache und den Schriften der Griechen. Die schöne
Menschlichkeit der alten Welt und ihre einfach hohe Kunst und Dichtung
ward wieder belebt, man trat wieder in unmittelbare Verbindung mit dem
classischen Alterthum, aus den todten Sprachen Sproß dieses neue Leben.


Da stieg der schöne Flüchtling aus dem Osten,
Der junge Tag, im Westen neu empor,
Und auf Hesperiens Gefilden sproßten
Verjüngte Blüthen Ioniens hervor.

auf die Fayade und die Thürme 1273 vollendet, nachdem man 260 Jahre
daran gebaut hatte. An der Vollendung der prachtvollen Fa?abe arbeitete
Erwin von Steinbach 1277—1318 und noch zwei Jahrhunderte vergingen,
ehe dies colossale Denkmal deutscher Kunst seine jetzige Vollendung erhielt, an
dem alle Epochen mittelalterlicher Baukunst von dem romanischen Stile bis
zu der späteren Gothik gearbeitet haben. Jene Verfassung, welche den Rath
aus allen drei Ständen durch Wahl zusammensetzte, blieb die Grundlage; sie
erhielt sich durch die schweren Zeiten der Judenverfolgungen und der Pest
im 14. Jahrhundert, sie überdauerte in den Formen deutscher Reichsfreiheit
sogar die gewaltsame französische Besitzergreifung, weil in der Capitulation
die Rechte und Privilegien der Stadt gewährleistet waren, und fand erst, als
sie sich ohnehin überlebt hatte, in der Municipalität der französischen Repu¬
blik ihr Ende. Durch sie ward möglich, trotz des Wechsels der Aemter das
Gute stets zu erhalten und das hohe Ansehen zu sichern, dessen sich die
Reichsstadt durch alle Zeiten erfreute.

Wie Straßburg in seinem Gemeinwesen Muster und Vorbild für viele
deutsche Städte geworden ist, fo hat es auch durch Geistesarbeit die Zugehörig¬
keit zur Nation bethätigt; sein Name glänzt in allen wichtigen Epochen.
Ich will nicht von dem Mittelalter reden, in welchem die Gleichheit der Er¬
ziehung und des Unterrichts auch gleichartige Bildung herbeiführte und
zwischen romanischen und germanischen Völkern noch keinen Unterschied zeigte.
Der Gelehrte ist damals überall Kleriker. Doch wollen wir nicht vergessen,
wie Straßburg seit dem 13. Jahrhundert in der deutschen ritterlichen Dich¬
tung hervortritt durch den Stadtschreiber Gottfried 1207, wie unter den My¬
stikern Meister Eckarts Schüler Johannes Tauler (-1- 1361) glänzt und unter
den Geschichtsschreibern der Chorherr Friedrich Closener und Jacob Twinger
von Königshöfen, der die locale Geschichte mit der allgemeinen deutschen
und der Universalgeschichte in so ansprechender Weise zu verbinden ver¬
standen hat.

Im 14. Jahrhundert erwachte die Welt aus langem Schlafe und reckte,
wie Erasmus sagt, die Glieder, die ein schwerer Traum gefangen hielt. Die
Zeit der Renaissance beginnt in Italien durch die Rückkehr zur römischen
Litteratur seit Petrarca und Boeaccio; einen weiteren Fortschritt bezeichnet die
Bekanntschaft mit der Sprache und den Schriften der Griechen. Die schöne
Menschlichkeit der alten Welt und ihre einfach hohe Kunst und Dichtung
ward wieder belebt, man trat wieder in unmittelbare Verbindung mit dem
classischen Alterthum, aus den todten Sprachen Sproß dieses neue Leben.


Da stieg der schöne Flüchtling aus dem Osten,
Der junge Tag, im Westen neu empor,
Und auf Hesperiens Gefilden sproßten
Verjüngte Blüthen Ioniens hervor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/211>, abgerufen am 29.09.2024.