Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.länger als irgend ein anderer Minister nach ihnen im Amte. Erst der Krieg, länger als irgend ein anderer Minister nach ihnen im Amte. Erst der Krieg, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125984"/> <p xml:id="ID_648" prev="#ID_647" next="#ID_649"> länger als irgend ein anderer Minister nach ihnen im Amte. Erst der Krieg,<lb/> die zu Tage getretene Corruption und die Finanznoth lockerten den Boden<lb/> unter ihren Füßen. Ihnen folgte der föderalistische Goluchowski mit dem<lb/> verstärkten Reichsrath, dem Octoberdiplom und dessen authentischer Inter¬<lb/> pretation in den vier Länderstatuten. Der unglückliche Versuch, die vor 300<lb/> Jahren bestandenen Formen von neuem einzuführen, stieß auf den lauten<lb/> Widerspruch der Gebildeten und des Volkes. Da tauchte der eigenthümliche<lb/> Gedanke auf, das nun einmal erlassene Reichsgesetz den Bedürfnissen der Zeit<lb/> anzupassen. Die Landtage wurden mit zweckmäßig erscheinenden Abänderun¬<lb/> gen beibehalten. Auf dieser föderalistischen Grundlage sollte sich der Neubau<lb/> eines constitutionellen Einheitstaates erheben. Dagegen sträubten sich die<lb/> Ungarn und Croaten auf ihren Landtagen, was dann wieder dringenden<lb/> Anlaß bot, nach kaum vier ein halb Jahren das feierlich verkündete und<lb/> angelobte Grundgesetz über die Reichsvertretung zu sistiren. In Folge der<lb/> angeregten „Rechtsbedenken" sollte dieses nunmehr den legalen Vertretern der<lb/> östlichen Reichshälfte erst zur Annahme vorgelegt und jene der übrigen König¬<lb/> reiche und Länder über die Verhandlungsresultate mit ihrem gleichgewichtigen<lb/> Ausspruch vernommen werden. Die weitere Entschließung war im Manifeste<lb/> vom 20. September 1865 vorbehalten. Der ministerielle Commentar ent¬<lb/> blödete sich nicht in dem darauf bezüglichen Rundschreiben den engeren Reichs-<lb/> rath schlechtweg eine „Rechtsfiction" zu nennen, und die Behauptung auf¬<lb/> zustellen, die Rechtscontinuität der Länder könne vorerst nur von den Landes¬<lb/> ordnungen ausgehen. Das Neichsrathsstatut galt dem Grafen Belcredi so<lb/> lange nicht als ein rechtlich giltiges und wirksames Versassungsgesetz, als nicht<lb/> die Gesammtheit aller Länder es dafür angenommen hätte. Wie man sieht,<lb/> war der Graf noch ein besserer Jesuit als selbst Fürst Schwarzenberg. Die<lb/> öffentliche Meinung aber, namentlich die Unzufriedenheit der Deutschen, brach<lb/> auch über ihn den Stab; plötzlich, innerhalb 24 Stunden, mußte er dem<lb/> Grafen Beust als seinem Nachfolger weichen. Sein Versuch, die Verfassung<lb/> über Bord zu werfen, hatte nur zur Folge, daß diesseit und jenseit der<lb/> Leitha die constitutionelle Form befestigt, das Recht der westlichen Länder<lb/> durch jenes der östlichen gestützt, und das Reichsrathsstatut im Geiste des<lb/> Fortschritts revidirt wurde. Allein die daraus erwachsenen konfessionellen<lb/> Gesetze vom 25. Mai 1868 wurden in maßgebenden Kreisen bitter und<lb/> schmerzlich empfunden. Sie waren hauptsächlich von der Reaction hinter<lb/> den Coulissen als Hebel benützt worden, um wieder das ganze Verfassungs¬<lb/> werk in Frage zu stellen. Auch die braven und getreuen Polen, Czechen und<lb/> Südslaven hatten autonome Gelüste wie die Ungarn und Croaten, man ließ<lb/> sie ruhig ihre Resolutionen und Deklarationen abfassen, und wenn einmal<lb/> wegen offenen Aufstandes in Prag der Belagerungszustand verhängt wurde,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0202]
länger als irgend ein anderer Minister nach ihnen im Amte. Erst der Krieg,
die zu Tage getretene Corruption und die Finanznoth lockerten den Boden
unter ihren Füßen. Ihnen folgte der föderalistische Goluchowski mit dem
verstärkten Reichsrath, dem Octoberdiplom und dessen authentischer Inter¬
pretation in den vier Länderstatuten. Der unglückliche Versuch, die vor 300
Jahren bestandenen Formen von neuem einzuführen, stieß auf den lauten
Widerspruch der Gebildeten und des Volkes. Da tauchte der eigenthümliche
Gedanke auf, das nun einmal erlassene Reichsgesetz den Bedürfnissen der Zeit
anzupassen. Die Landtage wurden mit zweckmäßig erscheinenden Abänderun¬
gen beibehalten. Auf dieser föderalistischen Grundlage sollte sich der Neubau
eines constitutionellen Einheitstaates erheben. Dagegen sträubten sich die
Ungarn und Croaten auf ihren Landtagen, was dann wieder dringenden
Anlaß bot, nach kaum vier ein halb Jahren das feierlich verkündete und
angelobte Grundgesetz über die Reichsvertretung zu sistiren. In Folge der
angeregten „Rechtsbedenken" sollte dieses nunmehr den legalen Vertretern der
östlichen Reichshälfte erst zur Annahme vorgelegt und jene der übrigen König¬
reiche und Länder über die Verhandlungsresultate mit ihrem gleichgewichtigen
Ausspruch vernommen werden. Die weitere Entschließung war im Manifeste
vom 20. September 1865 vorbehalten. Der ministerielle Commentar ent¬
blödete sich nicht in dem darauf bezüglichen Rundschreiben den engeren Reichs-
rath schlechtweg eine „Rechtsfiction" zu nennen, und die Behauptung auf¬
zustellen, die Rechtscontinuität der Länder könne vorerst nur von den Landes¬
ordnungen ausgehen. Das Neichsrathsstatut galt dem Grafen Belcredi so
lange nicht als ein rechtlich giltiges und wirksames Versassungsgesetz, als nicht
die Gesammtheit aller Länder es dafür angenommen hätte. Wie man sieht,
war der Graf noch ein besserer Jesuit als selbst Fürst Schwarzenberg. Die
öffentliche Meinung aber, namentlich die Unzufriedenheit der Deutschen, brach
auch über ihn den Stab; plötzlich, innerhalb 24 Stunden, mußte er dem
Grafen Beust als seinem Nachfolger weichen. Sein Versuch, die Verfassung
über Bord zu werfen, hatte nur zur Folge, daß diesseit und jenseit der
Leitha die constitutionelle Form befestigt, das Recht der westlichen Länder
durch jenes der östlichen gestützt, und das Reichsrathsstatut im Geiste des
Fortschritts revidirt wurde. Allein die daraus erwachsenen konfessionellen
Gesetze vom 25. Mai 1868 wurden in maßgebenden Kreisen bitter und
schmerzlich empfunden. Sie waren hauptsächlich von der Reaction hinter
den Coulissen als Hebel benützt worden, um wieder das ganze Verfassungs¬
werk in Frage zu stellen. Auch die braven und getreuen Polen, Czechen und
Südslaven hatten autonome Gelüste wie die Ungarn und Croaten, man ließ
sie ruhig ihre Resolutionen und Deklarationen abfassen, und wenn einmal
wegen offenen Aufstandes in Prag der Belagerungszustand verhängt wurde,
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