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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Mitleid begehrt; Gründe, nicht Lamentationen; welchen satirischen Eindruck
mußte ihm der Schlußsatz jenes Decretes machen, das ihm neuerlich zur
Unterwerfung Zeit gab, und auf ihn mit den Worten hinwies: "Wir wollen
das geknickte Rohr nicht gänzlich zerbrechen und den erlöschenden Docht nicht
gänzlich zertreten." Man stand einer Frage gegenüber, auf welche die besten
Geister mit grübelnder Gewalt sich stürzten, man stand vor einem Manne,
dessen Größe mit Jahrhunderten gemessen werden muß -- und für das alles
nicht ein Schatten des Verständnisses, für diesen Heroismus nicht das leiseste
Gefühl! So sehr hatte der Größenwahnsinn der römischen Lehre jeden Sinn
für menschliche Größe ertödtet, daß man nicht einmal mehr befürchtete, mit
solcher Antwort sich selber bloszustellen, daß man dies erbärmliche Erbarmen
vielleicht gar für einen moralischen Triumph hielt.

Mit dieser Erklärung waren in der That die Würfel gefallen. Wenn
sich der Streit bisher nur unter zwei Parteien bewegte, zwischen Döllinger und
dem erzbischöflichen Capitel, so nahm nunmehr ein dritter wesentlicher Factor
Partei -- und das war das gesammte gebildete Publicum.

Wir stehen damit vor einen neuem Abschnitt der großen Bewegung.
Während bisher die Laienwelt in stummer Erregung zusah, brach nun die
öffentliche Meinung unwiderstehlich durch und ging vom Worte bald zu
Thaten über. Die katholischen Männer, welche ein Ostermontag im Museums¬
saale zu München zusammentraten, waren nicht von jener Kategorie, der man
etwa Lust an Neuerungen oder zu Opposition geneigten Sinn zuschreiben
möchte. Es waren mehr Meister als Jünger der Wissenschaft; die Mehrzahl
in höheren Jahren und fast alle in hohen Aemtern stehend. Nicht die Er¬
regtheit, sondern der Ernst dieser Tage hatte sie zusammengeführt, die Mittel,
welche sie gebrauchen wollten, lagen strenge innerhalb des Gesetzes. Von
diesen nun, unter denen selbst die obersten Hofchargen vertreten waren, ward
eine Adresse an die Staatsregierung beschlossen, um die Autorität derselben
gegen alle klerikalen Uebergriffe zu Hilfe zu rufen. Was den Standpunkt
betraf, auf den sich die Unterzeichner der Adresse stützten, so war derselbe ein
doppelter. Man versprach der Bewegung einen intensiven Erfolg, wenn die¬
selbe innerhalb der katholischen Confession vor sich ginge und nur von Ka¬
tholiken getragen würde, und obwohl wir über die Zweckmäßigkeit dieser Er¬
wägung nicht streiten wollen, so erscheint uns diese Beschränkung doch höchst
correct und folgerichtig.

Allein wenn auch bloß Katholiken hier Beschwerde führten, so sollte
anderseits doch dieser Beschwerde lediglich der staatsrechtliche Gesichtspunkt zu
Grunde liegen. Mit andern Worten können wir sagen: man vermied, auf
die historisch-dogmatische Haltlosigkeit der neuen Lehre einzugehen, und be-


Mitleid begehrt; Gründe, nicht Lamentationen; welchen satirischen Eindruck
mußte ihm der Schlußsatz jenes Decretes machen, das ihm neuerlich zur
Unterwerfung Zeit gab, und auf ihn mit den Worten hinwies: „Wir wollen
das geknickte Rohr nicht gänzlich zerbrechen und den erlöschenden Docht nicht
gänzlich zertreten." Man stand einer Frage gegenüber, auf welche die besten
Geister mit grübelnder Gewalt sich stürzten, man stand vor einem Manne,
dessen Größe mit Jahrhunderten gemessen werden muß — und für das alles
nicht ein Schatten des Verständnisses, für diesen Heroismus nicht das leiseste
Gefühl! So sehr hatte der Größenwahnsinn der römischen Lehre jeden Sinn
für menschliche Größe ertödtet, daß man nicht einmal mehr befürchtete, mit
solcher Antwort sich selber bloszustellen, daß man dies erbärmliche Erbarmen
vielleicht gar für einen moralischen Triumph hielt.

Mit dieser Erklärung waren in der That die Würfel gefallen. Wenn
sich der Streit bisher nur unter zwei Parteien bewegte, zwischen Döllinger und
dem erzbischöflichen Capitel, so nahm nunmehr ein dritter wesentlicher Factor
Partei — und das war das gesammte gebildete Publicum.

Wir stehen damit vor einen neuem Abschnitt der großen Bewegung.
Während bisher die Laienwelt in stummer Erregung zusah, brach nun die
öffentliche Meinung unwiderstehlich durch und ging vom Worte bald zu
Thaten über. Die katholischen Männer, welche ein Ostermontag im Museums¬
saale zu München zusammentraten, waren nicht von jener Kategorie, der man
etwa Lust an Neuerungen oder zu Opposition geneigten Sinn zuschreiben
möchte. Es waren mehr Meister als Jünger der Wissenschaft; die Mehrzahl
in höheren Jahren und fast alle in hohen Aemtern stehend. Nicht die Er¬
regtheit, sondern der Ernst dieser Tage hatte sie zusammengeführt, die Mittel,
welche sie gebrauchen wollten, lagen strenge innerhalb des Gesetzes. Von
diesen nun, unter denen selbst die obersten Hofchargen vertreten waren, ward
eine Adresse an die Staatsregierung beschlossen, um die Autorität derselben
gegen alle klerikalen Uebergriffe zu Hilfe zu rufen. Was den Standpunkt
betraf, auf den sich die Unterzeichner der Adresse stützten, so war derselbe ein
doppelter. Man versprach der Bewegung einen intensiven Erfolg, wenn die¬
selbe innerhalb der katholischen Confession vor sich ginge und nur von Ka¬
tholiken getragen würde, und obwohl wir über die Zweckmäßigkeit dieser Er¬
wägung nicht streiten wollen, so erscheint uns diese Beschränkung doch höchst
correct und folgerichtig.

Allein wenn auch bloß Katholiken hier Beschwerde führten, so sollte
anderseits doch dieser Beschwerde lediglich der staatsrechtliche Gesichtspunkt zu
Grunde liegen. Mit andern Worten können wir sagen: man vermied, auf
die historisch-dogmatische Haltlosigkeit der neuen Lehre einzugehen, und be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/195>, abgerufen am 29.12.2024.