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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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An dieser schweizerischen Freizügigkeit hat die neueste Bundesreform ^)
Folgendes geändert:

An "Ausweisschriften" für die Freiheit seiner Niederlassung im ganzen
Umfange der Eidgenossenschaft bedarf der Schweizer hinfort nur einen Hei¬
mathschein und "eine Bescheinigung, daß er nicht durch ein gerichtliches
Strafurtheil seine bürgerlichen Rechte und Ehren verloren habe." Also besteht
in der Schweiz das Gegentheil von dem Rechtsspruch: "Jeder gilt so lange
für unsträflich, bis das Gegentheil erwiesen ist." Jeder Anziehende gilt viel¬
mehr auch nach neuestem schweizerischen Verfassungsrecht so lange für verdäch¬
tig und schlecht, bis er seine Tugend und Bonnae bescheinigt hat. "Der nie¬
dergelassene erlangt alle Rechte der Bürger des Kantons, mit Ausnahme des
Mitantheils an Gemeinde- und Corporationsgütern. In Betreff des Stimm¬
rechts in Gemeindeangelegenheiten ist er dem niedergelassenen Kantons¬
bürger gleichzustellen. Gänzlicher Ausschluß vom Stimmrecht in Gemeinde¬
angelegenheiten ist unzulässig" -- aber erlaubt, die Zugewanderten auf ein
dürftig Pflichttheil von Stimmrecht zu setzen. Nach wie vor kann der nieder¬
gelassene "aus dem Kanton" -- "in welchem er niedergelassen ist," setzt jedes¬
mal der neue Entwurf sehr ernsthaft hinzu, damit er nicht etwa irgendwo
ausgewiesen werde, wo er nicht niedergelassen ist -- "weggewiesen werden,
durch gerichtliches Urtheil, oder wenn er durch Verarmung zur Last fällt!"
Die Fortschritte dieser Veränderung sind nicht unwesentlich. Vor Allem ist
die traurige Beschränkung der Zugfreiheit auf die Angehörigen der christlichen
Confessionen weggefallen. Ebenso ist von größter Wichtigkeit, daß vom An¬
ziehenden nicht mehr der Nachweis seiner Unterhaltsmittel gefordert werden
und die Ausweisung nicht mehr durch bloße Pvlizeiverfügungen, sondern nur
durch richterliches Urtheil vor sich gehen kann.

Sicher ist jedoch, daß durch diese neue schweizerische Freizügigkeit für die
Freiheit der Bewegung der Personen, der Erwerbsfähigkeit und des geschäft¬
lichen Verkehrs noch sehr wenig gethan ist. Noch nicht einmal soweit, als Nord¬
deutschland durch sein Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867 -- welches
also schon 4 Monate nach Gültigkeit der Bundesverfassung ins Leben trat -- ist
die Schweiz durch ihre neueste Verfassungsreform nach dreiundzwanzigjähriger Er¬
fahrung gediehen. Die schweizerische Freizügigkeit kennt nicht mit nöthiger Be¬
stimmtheit den Grundsatz, daß keinem Bundesangehörigen wegen fehlender Landes¬
oder Gemeindeangehörigkeit der Aufenthalt, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb
oder der Erwerb von Grundeigenthum verweigert werden dürfet) Die schweizerische
Verf.-Reform spricht nicht mit der wünschenswerthen Schärfe den Satz aus,



Alt. 41 des Etttwmsö. ") Um'dd. F>eijügi>;f.'its-Geh!) von" 1. Nov. §

An dieser schweizerischen Freizügigkeit hat die neueste Bundesreform ^)
Folgendes geändert:

An „Ausweisschriften" für die Freiheit seiner Niederlassung im ganzen
Umfange der Eidgenossenschaft bedarf der Schweizer hinfort nur einen Hei¬
mathschein und „eine Bescheinigung, daß er nicht durch ein gerichtliches
Strafurtheil seine bürgerlichen Rechte und Ehren verloren habe." Also besteht
in der Schweiz das Gegentheil von dem Rechtsspruch: „Jeder gilt so lange
für unsträflich, bis das Gegentheil erwiesen ist." Jeder Anziehende gilt viel¬
mehr auch nach neuestem schweizerischen Verfassungsrecht so lange für verdäch¬
tig und schlecht, bis er seine Tugend und Bonnae bescheinigt hat. „Der nie¬
dergelassene erlangt alle Rechte der Bürger des Kantons, mit Ausnahme des
Mitantheils an Gemeinde- und Corporationsgütern. In Betreff des Stimm¬
rechts in Gemeindeangelegenheiten ist er dem niedergelassenen Kantons¬
bürger gleichzustellen. Gänzlicher Ausschluß vom Stimmrecht in Gemeinde¬
angelegenheiten ist unzulässig" — aber erlaubt, die Zugewanderten auf ein
dürftig Pflichttheil von Stimmrecht zu setzen. Nach wie vor kann der nieder¬
gelassene „aus dem Kanton" — „in welchem er niedergelassen ist," setzt jedes¬
mal der neue Entwurf sehr ernsthaft hinzu, damit er nicht etwa irgendwo
ausgewiesen werde, wo er nicht niedergelassen ist — „weggewiesen werden,
durch gerichtliches Urtheil, oder wenn er durch Verarmung zur Last fällt!"
Die Fortschritte dieser Veränderung sind nicht unwesentlich. Vor Allem ist
die traurige Beschränkung der Zugfreiheit auf die Angehörigen der christlichen
Confessionen weggefallen. Ebenso ist von größter Wichtigkeit, daß vom An¬
ziehenden nicht mehr der Nachweis seiner Unterhaltsmittel gefordert werden
und die Ausweisung nicht mehr durch bloße Pvlizeiverfügungen, sondern nur
durch richterliches Urtheil vor sich gehen kann.

Sicher ist jedoch, daß durch diese neue schweizerische Freizügigkeit für die
Freiheit der Bewegung der Personen, der Erwerbsfähigkeit und des geschäft¬
lichen Verkehrs noch sehr wenig gethan ist. Noch nicht einmal soweit, als Nord¬
deutschland durch sein Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867 — welches
also schon 4 Monate nach Gültigkeit der Bundesverfassung ins Leben trat — ist
die Schweiz durch ihre neueste Verfassungsreform nach dreiundzwanzigjähriger Er¬
fahrung gediehen. Die schweizerische Freizügigkeit kennt nicht mit nöthiger Be¬
stimmtheit den Grundsatz, daß keinem Bundesangehörigen wegen fehlender Landes¬
oder Gemeindeangehörigkeit der Aufenthalt, die Niederlassung, der Gewerbebetrieb
oder der Erwerb von Grundeigenthum verweigert werden dürfet) Die schweizerische
Verf.-Reform spricht nicht mit der wünschenswerthen Schärfe den Satz aus,



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/170>, abgerufen am 28.12.2024.