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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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norddeutschen Bundes aufzählte. Dem Abgeordneten Eugen Richter, einem
noch jungen Mann, in welchem aber außer der Nachwirkung der Traditionen
aus der Conflictszeit auch Äer Glaube an die Untrüglichkeit seines Finanz¬
genie schlummert, war vorbehalten, durch verletzend scharfe Kritik den guten
Eindruck der Etatberathung zu stören, im Gegensatz zu dem wirklich auf¬
fallend gemäßigten Verhalten der anderen Fortschrittsmänner. Selbst Schulze-
Delitzsch ereiferte sich bis jetzt nur, als es galt, sein geliebtes Genossenschafts¬
gesetz mit der unumschränkten Haftpflicht aller Genossenschaften gegenüber der
bayrischen limitirten Haftpflicht als das einzig richtige in Schutz zu nehmen.

Die Physiognomie des Reichstags hat sich beträchtlich umgestaltet. Von
der linken Seite des Hauses ist der linke Flügel in seinen vorderen Reihen
durch die Gestalten der Fortschrittspartei eingenommen, die das Bewußtsein,
eine "alte Partei" zu sein, deutlich in ihrer Haltung widerspiegeln; die übrige
linke Seite gehört den feineren und versatileren Figuren der Nationalliberalen
aus Nord- und Süddeutschland; von der rechten Seite sind die Bänke durch
Klerikale und preußische Alteonservative besehe, die Plätze nach dem Präsidenten
hin gehören theils der deutschen Reichspartei, theils jener neuen Mittelpartei,
die zu Führern allerdings nationalgesinnte Kapacitäten wie Roggenbach,
Rabenau, v. Bernuth, Kussenow und Volk besitzt, im Uebrigen aber parti-
cularistisch, und sogar klerikal angeflogene Männer unter sich zählt. Nament¬
lich hat überrascht, die drei entschieden "Sachsen", welche der Reichstag unter
sich zählt, hier mit Roggenbach in Einer Fraction vereinigt zu sehen; und durch
diesen Umstand ebenso wie durch das ein wenig gemischt klingende Programm
der neuen Fraction wird wahrscheinlich, daß dieselbe als Gemeinschaft
tendenziös ist und nur den Zweck hat, einer Anzahl Abgeordneter, welche bei
der anerkannten Herrschaft des Seniorenwesens in den -Commissionen unver-
treten sein würden, wenn sie fractionslos blieben, doch einigen technischen
Einfluß auf die außer den Plenarsitzungen vor sich gehenden Berathungen zu
garantiren.

Ein Theil dieser neuen Mittelpartei findet deßhalb seinen richtigen Platz
in den halbkreisförmigen Reihen, die sich concentrisch vor dem Präsidenten
und der Rednerbühne gruppiren. In diesem territorialen Centrum, welches
dem Bundesrath seinen Rücken zukehrt, finden wir eine Blumenlese der Mit¬
glieder des Hauses von fast allen Parteien. Da sitzen von den Nationallibe¬
ralen der joviale Dr. Karl Braun -- der auf seinen neuen parlamentarischen
Namen Braun-Reuß oder Braun-Gera bis jetzt nur lächelnd hört -- und
der fein lächelnde Tellkampf "der lange in Amerika gewesen;" von der
deutschen Reichspartei Friedenthal und Ujest; von den Klerikalen der mit der
Ansäuerlichkeit eines seltenen Mopfes dreinschauende Bischof von Mainz, umgeben
von Savigny und den Dioskuren Reichensperger, von den Welsen Leuthe, Ewald,


norddeutschen Bundes aufzählte. Dem Abgeordneten Eugen Richter, einem
noch jungen Mann, in welchem aber außer der Nachwirkung der Traditionen
aus der Conflictszeit auch Äer Glaube an die Untrüglichkeit seines Finanz¬
genie schlummert, war vorbehalten, durch verletzend scharfe Kritik den guten
Eindruck der Etatberathung zu stören, im Gegensatz zu dem wirklich auf¬
fallend gemäßigten Verhalten der anderen Fortschrittsmänner. Selbst Schulze-
Delitzsch ereiferte sich bis jetzt nur, als es galt, sein geliebtes Genossenschafts¬
gesetz mit der unumschränkten Haftpflicht aller Genossenschaften gegenüber der
bayrischen limitirten Haftpflicht als das einzig richtige in Schutz zu nehmen.

Die Physiognomie des Reichstags hat sich beträchtlich umgestaltet. Von
der linken Seite des Hauses ist der linke Flügel in seinen vorderen Reihen
durch die Gestalten der Fortschrittspartei eingenommen, die das Bewußtsein,
eine „alte Partei" zu sein, deutlich in ihrer Haltung widerspiegeln; die übrige
linke Seite gehört den feineren und versatileren Figuren der Nationalliberalen
aus Nord- und Süddeutschland; von der rechten Seite sind die Bänke durch
Klerikale und preußische Alteonservative besehe, die Plätze nach dem Präsidenten
hin gehören theils der deutschen Reichspartei, theils jener neuen Mittelpartei,
die zu Führern allerdings nationalgesinnte Kapacitäten wie Roggenbach,
Rabenau, v. Bernuth, Kussenow und Volk besitzt, im Uebrigen aber parti-
cularistisch, und sogar klerikal angeflogene Männer unter sich zählt. Nament¬
lich hat überrascht, die drei entschieden „Sachsen", welche der Reichstag unter
sich zählt, hier mit Roggenbach in Einer Fraction vereinigt zu sehen; und durch
diesen Umstand ebenso wie durch das ein wenig gemischt klingende Programm
der neuen Fraction wird wahrscheinlich, daß dieselbe als Gemeinschaft
tendenziös ist und nur den Zweck hat, einer Anzahl Abgeordneter, welche bei
der anerkannten Herrschaft des Seniorenwesens in den -Commissionen unver-
treten sein würden, wenn sie fractionslos blieben, doch einigen technischen
Einfluß auf die außer den Plenarsitzungen vor sich gehenden Berathungen zu
garantiren.

Ein Theil dieser neuen Mittelpartei findet deßhalb seinen richtigen Platz
in den halbkreisförmigen Reihen, die sich concentrisch vor dem Präsidenten
und der Rednerbühne gruppiren. In diesem territorialen Centrum, welches
dem Bundesrath seinen Rücken zukehrt, finden wir eine Blumenlese der Mit¬
glieder des Hauses von fast allen Parteien. Da sitzen von den Nationallibe¬
ralen der joviale Dr. Karl Braun — der auf seinen neuen parlamentarischen
Namen Braun-Reuß oder Braun-Gera bis jetzt nur lächelnd hört — und
der fein lächelnde Tellkampf „der lange in Amerika gewesen;" von der
deutschen Reichspartei Friedenthal und Ujest; von den Klerikalen der mit der
Ansäuerlichkeit eines seltenen Mopfes dreinschauende Bischof von Mainz, umgeben
von Savigny und den Dioskuren Reichensperger, von den Welsen Leuthe, Ewald,


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[0155] norddeutschen Bundes aufzählte. Dem Abgeordneten Eugen Richter, einem noch jungen Mann, in welchem aber außer der Nachwirkung der Traditionen aus der Conflictszeit auch Äer Glaube an die Untrüglichkeit seines Finanz¬ genie schlummert, war vorbehalten, durch verletzend scharfe Kritik den guten Eindruck der Etatberathung zu stören, im Gegensatz zu dem wirklich auf¬ fallend gemäßigten Verhalten der anderen Fortschrittsmänner. Selbst Schulze- Delitzsch ereiferte sich bis jetzt nur, als es galt, sein geliebtes Genossenschafts¬ gesetz mit der unumschränkten Haftpflicht aller Genossenschaften gegenüber der bayrischen limitirten Haftpflicht als das einzig richtige in Schutz zu nehmen. Die Physiognomie des Reichstags hat sich beträchtlich umgestaltet. Von der linken Seite des Hauses ist der linke Flügel in seinen vorderen Reihen durch die Gestalten der Fortschrittspartei eingenommen, die das Bewußtsein, eine „alte Partei" zu sein, deutlich in ihrer Haltung widerspiegeln; die übrige linke Seite gehört den feineren und versatileren Figuren der Nationalliberalen aus Nord- und Süddeutschland; von der rechten Seite sind die Bänke durch Klerikale und preußische Alteonservative besehe, die Plätze nach dem Präsidenten hin gehören theils der deutschen Reichspartei, theils jener neuen Mittelpartei, die zu Führern allerdings nationalgesinnte Kapacitäten wie Roggenbach, Rabenau, v. Bernuth, Kussenow und Volk besitzt, im Uebrigen aber parti- cularistisch, und sogar klerikal angeflogene Männer unter sich zählt. Nament¬ lich hat überrascht, die drei entschieden „Sachsen", welche der Reichstag unter sich zählt, hier mit Roggenbach in Einer Fraction vereinigt zu sehen; und durch diesen Umstand ebenso wie durch das ein wenig gemischt klingende Programm der neuen Fraction wird wahrscheinlich, daß dieselbe als Gemeinschaft tendenziös ist und nur den Zweck hat, einer Anzahl Abgeordneter, welche bei der anerkannten Herrschaft des Seniorenwesens in den -Commissionen unver- treten sein würden, wenn sie fractionslos blieben, doch einigen technischen Einfluß auf die außer den Plenarsitzungen vor sich gehenden Berathungen zu garantiren. Ein Theil dieser neuen Mittelpartei findet deßhalb seinen richtigen Platz in den halbkreisförmigen Reihen, die sich concentrisch vor dem Präsidenten und der Rednerbühne gruppiren. In diesem territorialen Centrum, welches dem Bundesrath seinen Rücken zukehrt, finden wir eine Blumenlese der Mit¬ glieder des Hauses von fast allen Parteien. Da sitzen von den Nationallibe¬ ralen der joviale Dr. Karl Braun — der auf seinen neuen parlamentarischen Namen Braun-Reuß oder Braun-Gera bis jetzt nur lächelnd hört — und der fein lächelnde Tellkampf „der lange in Amerika gewesen;" von der deutschen Reichspartei Friedenthal und Ujest; von den Klerikalen der mit der Ansäuerlichkeit eines seltenen Mopfes dreinschauende Bischof von Mainz, umgeben von Savigny und den Dioskuren Reichensperger, von den Welsen Leuthe, Ewald,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/155>, abgerufen am 28.12.2024.