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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Adreßentwurf des Abgeordnetenhauses den Tadel über die lange Unterbrechung
der parlamentarischen Thätigkeit und die fruchtlosen Unterhandlungen des
Ministeriums mit verfassungsfeindlichen Parteien, über die unzweckmäßige
Auflösung des böhmischen Landtags und die Aufmunterung der Opposition
zur Untergrabung der Autorität des Gesetzes und der Verfassung in mildere
Formen gehüllt und nur dem tiefen Bedauern Ausdruck gegeben, daß die
bisherige staatsrechtliche Wirksamkeit der Regierung keine Gewähr für die
Herstellung geordneter, verfassungsmäßiger Zustände leiste. Die Berathung
des Entwurfs gab indeß den Wortführern Anlaß, auch diesen Schattenriß
durch schärferes Detail in charakteristischen Zügen zu ergänzen. Seit
einundzwanzig Jahren sei in Oestreich eine Reihe von Experimenten der
Polizeiwirthschaft und Säbclherrschaft, des Scheinconstitutionalismus und
der Sistirung durchgeführt, die Thätigkeit des freisinnigen Bürgerministeriums
durch eine Nebenregierung lahmgelegt und zuletzt ein Ausgleichsministerium
berufen worden, dessen methodische Anwendung constitutioneller Formen die
Verfassung selbst verletze. Die Regierung habe ein polnisches und czechisches,
aber kein östreichisches Bewußtsein großgezogen und sie suche in derselben Zeit,
wo eine große Katastrophe im Westen ein ganzes Volk niederschmettere und
das Schicksal im Osten mit ehernem Finger an die Pforte Oestreichs klopfe,
durch kleinliche Intriguen die Verfassungspartei an die Wand zu drücken.
Unter diesen Umständen sei patriotische Pflicht des Reichsraths, dieses
Ministerium so rasch als möglich zu beseitigen, und die Aufgabe der Deutschen,
wie immer das alte Oestreich mit ihrem Herzblut zu schützen, ohne sich für
interessante Nationalitäten zu opfern. Noch sei Oestreich weit entfernt, den
Weg des Scheinliberalismus zu verlassen; aber unter dem reformatorischen
Gewittersturm, der Europa durchbrause, steige der deutsche Volksgeist aus den
Ruinen des Cäsarismus frisch und jung hervor, das Weltleben durch Ver¬
brüderung freier, gleichberechtigter Völker im Reich des Friedens und der
Cultur umzugestalten.

Wenn diese Worte des Abgeordneten Fux die Stimmungen und Wünsche
der Bevölkerung abspiegelten, so entrollte Dr. Herbst ein inhaltreiches Sünden¬
register des Ministeriums, zergliederte mit scharfer Dialektik das Programm
der Regierung, bezeichnete die maßlose Steigerung der czechischen Anforderungen
und die anarchischen Zustände in Böhmen als natürliche Folge der fortge¬
setzten Ausgleichsverhandlungen, die Absetzung der drei Statthalter als eine
Verletzung der Immunität der Abgeordneten und glaubte nur der Erfolglosig¬
keit aller Regierungsmaßregeln es zuschreiben zu dürfen, daß nicht eine feind¬
liche Majorität des Abgeordnetenhaus die Verfassung auf verfassungsmäßigen
Boden zu beseitigen vermochte. -- Alle diese Kundgebungen lieferten indeß
nur schätzbares Material zur Klärung der verworrenen Lage, ohne den Wider-


Adreßentwurf des Abgeordnetenhauses den Tadel über die lange Unterbrechung
der parlamentarischen Thätigkeit und die fruchtlosen Unterhandlungen des
Ministeriums mit verfassungsfeindlichen Parteien, über die unzweckmäßige
Auflösung des böhmischen Landtags und die Aufmunterung der Opposition
zur Untergrabung der Autorität des Gesetzes und der Verfassung in mildere
Formen gehüllt und nur dem tiefen Bedauern Ausdruck gegeben, daß die
bisherige staatsrechtliche Wirksamkeit der Regierung keine Gewähr für die
Herstellung geordneter, verfassungsmäßiger Zustände leiste. Die Berathung
des Entwurfs gab indeß den Wortführern Anlaß, auch diesen Schattenriß
durch schärferes Detail in charakteristischen Zügen zu ergänzen. Seit
einundzwanzig Jahren sei in Oestreich eine Reihe von Experimenten der
Polizeiwirthschaft und Säbclherrschaft, des Scheinconstitutionalismus und
der Sistirung durchgeführt, die Thätigkeit des freisinnigen Bürgerministeriums
durch eine Nebenregierung lahmgelegt und zuletzt ein Ausgleichsministerium
berufen worden, dessen methodische Anwendung constitutioneller Formen die
Verfassung selbst verletze. Die Regierung habe ein polnisches und czechisches,
aber kein östreichisches Bewußtsein großgezogen und sie suche in derselben Zeit,
wo eine große Katastrophe im Westen ein ganzes Volk niederschmettere und
das Schicksal im Osten mit ehernem Finger an die Pforte Oestreichs klopfe,
durch kleinliche Intriguen die Verfassungspartei an die Wand zu drücken.
Unter diesen Umständen sei patriotische Pflicht des Reichsraths, dieses
Ministerium so rasch als möglich zu beseitigen, und die Aufgabe der Deutschen,
wie immer das alte Oestreich mit ihrem Herzblut zu schützen, ohne sich für
interessante Nationalitäten zu opfern. Noch sei Oestreich weit entfernt, den
Weg des Scheinliberalismus zu verlassen; aber unter dem reformatorischen
Gewittersturm, der Europa durchbrause, steige der deutsche Volksgeist aus den
Ruinen des Cäsarismus frisch und jung hervor, das Weltleben durch Ver¬
brüderung freier, gleichberechtigter Völker im Reich des Friedens und der
Cultur umzugestalten.

Wenn diese Worte des Abgeordneten Fux die Stimmungen und Wünsche
der Bevölkerung abspiegelten, so entrollte Dr. Herbst ein inhaltreiches Sünden¬
register des Ministeriums, zergliederte mit scharfer Dialektik das Programm
der Regierung, bezeichnete die maßlose Steigerung der czechischen Anforderungen
und die anarchischen Zustände in Böhmen als natürliche Folge der fortge¬
setzten Ausgleichsverhandlungen, die Absetzung der drei Statthalter als eine
Verletzung der Immunität der Abgeordneten und glaubte nur der Erfolglosig¬
keit aller Regierungsmaßregeln es zuschreiben zu dürfen, daß nicht eine feind¬
liche Majorität des Abgeordnetenhaus die Verfassung auf verfassungsmäßigen
Boden zu beseitigen vermochte. — Alle diese Kundgebungen lieferten indeß
nur schätzbares Material zur Klärung der verworrenen Lage, ohne den Wider-


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[0442] Adreßentwurf des Abgeordnetenhauses den Tadel über die lange Unterbrechung der parlamentarischen Thätigkeit und die fruchtlosen Unterhandlungen des Ministeriums mit verfassungsfeindlichen Parteien, über die unzweckmäßige Auflösung des böhmischen Landtags und die Aufmunterung der Opposition zur Untergrabung der Autorität des Gesetzes und der Verfassung in mildere Formen gehüllt und nur dem tiefen Bedauern Ausdruck gegeben, daß die bisherige staatsrechtliche Wirksamkeit der Regierung keine Gewähr für die Herstellung geordneter, verfassungsmäßiger Zustände leiste. Die Berathung des Entwurfs gab indeß den Wortführern Anlaß, auch diesen Schattenriß durch schärferes Detail in charakteristischen Zügen zu ergänzen. Seit einundzwanzig Jahren sei in Oestreich eine Reihe von Experimenten der Polizeiwirthschaft und Säbclherrschaft, des Scheinconstitutionalismus und der Sistirung durchgeführt, die Thätigkeit des freisinnigen Bürgerministeriums durch eine Nebenregierung lahmgelegt und zuletzt ein Ausgleichsministerium berufen worden, dessen methodische Anwendung constitutioneller Formen die Verfassung selbst verletze. Die Regierung habe ein polnisches und czechisches, aber kein östreichisches Bewußtsein großgezogen und sie suche in derselben Zeit, wo eine große Katastrophe im Westen ein ganzes Volk niederschmettere und das Schicksal im Osten mit ehernem Finger an die Pforte Oestreichs klopfe, durch kleinliche Intriguen die Verfassungspartei an die Wand zu drücken. Unter diesen Umständen sei patriotische Pflicht des Reichsraths, dieses Ministerium so rasch als möglich zu beseitigen, und die Aufgabe der Deutschen, wie immer das alte Oestreich mit ihrem Herzblut zu schützen, ohne sich für interessante Nationalitäten zu opfern. Noch sei Oestreich weit entfernt, den Weg des Scheinliberalismus zu verlassen; aber unter dem reformatorischen Gewittersturm, der Europa durchbrause, steige der deutsche Volksgeist aus den Ruinen des Cäsarismus frisch und jung hervor, das Weltleben durch Ver¬ brüderung freier, gleichberechtigter Völker im Reich des Friedens und der Cultur umzugestalten. Wenn diese Worte des Abgeordneten Fux die Stimmungen und Wünsche der Bevölkerung abspiegelten, so entrollte Dr. Herbst ein inhaltreiches Sünden¬ register des Ministeriums, zergliederte mit scharfer Dialektik das Programm der Regierung, bezeichnete die maßlose Steigerung der czechischen Anforderungen und die anarchischen Zustände in Böhmen als natürliche Folge der fortge¬ setzten Ausgleichsverhandlungen, die Absetzung der drei Statthalter als eine Verletzung der Immunität der Abgeordneten und glaubte nur der Erfolglosig¬ keit aller Regierungsmaßregeln es zuschreiben zu dürfen, daß nicht eine feind¬ liche Majorität des Abgeordnetenhaus die Verfassung auf verfassungsmäßigen Boden zu beseitigen vermochte. — Alle diese Kundgebungen lieferten indeß nur schätzbares Material zur Klärung der verworrenen Lage, ohne den Wider-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/442>, abgerufen am 23.07.2024.