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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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und Volksstämme, den wachsenden Widerstand gegen verfassungsmäßige Insti¬
tutionen und das rücksichtslose Streben auf Lockerung des Reichsverbandes,
Lähmung der Staatsgewalt und anarchische Zersetzung des Innern beleuchtete,
so gab die Adreßdebatte diesen allgemeinen Umrissen noch ein schärferes Relief.
"Noch nie seien föderalistische Tendenzen so unverhüllt aufgetreten, als in
diesem Augenblick, wo die nationale Opposition sich in eine staatsrechtliche
verwandelt habe und volle Selbständigkeit der Königreiche und Länder -- einen
Staat Tirol, einen Staat Jstrien, einen Staat Bukowina -- verlange und
wo der Drang nach Landesautonomie die Austria in ein Automat zu ver¬
wandeln drohe. Diese trostlose Situation falle zum großen Theil der gegen¬
wärtigen Negierung zur Last und Schuld, die, in sich selbst zerspalten, einen
Januskopf mit den Zügen der Verfassung und den Mienen des Föderalismus
trage und, in unauflösliche Widersprüche verstrickt, mit gesetzlichen Mitteln den
Selbstmord der Verfassung zu vollziehen strebe. Die unleugbare Thatsache, daß
der Minister Petrino in der letzten Session nach Zurückweisung seines unerhörten
Antrags, die Forderungen des Lemberger Landtags für Galizien auch allen
übrigen Landtagen zu bewilligen, nicht blos unter Protest das Abgeordnetenhaus
verlassen, sondern auch einen Versuch zur Sprengung des Reichsraths unter¬
nommen habe, rechtfertige wohl ernste Zweifel an der Verfassungstreue dieses
Mannes. Die Ausgleichsverhandlungen des Ministerpräsidenten mit dem
böhmischen Landtage seien mißlungen; dennoch habe die Regierung gerade in
Prag einen entschiedenen Feind der Verfassung zum Vorsitzenden jener Ver¬
sammlung bestellt, deren Mehrheit ausdrückliche Verwahrung gegen die Giltig-
keit der Verfassung zur Behauptung eines vermeintlichen böhmischen Sonder¬
staatsrechts einlegte. -- Während der Erdtheil von dem eisernen Schritt des
wiedererstandenen deutschen Kaisers erdröhne, citiren staatskünstlerische Bosco's
und Döbler's das Gespenst des heiligen Wenzel, um es wider den Gegner
als Grenzhut aufzustellen; während der Urheber des Nationalitätenzwistes in
Lothringen und Elsaß die Vergeltung seiner Schuld erfahre, wolle man hier
den Staat Maria Theresia's in Nationalitäten-Partikel zerlegen, suche in
siebzehn Antiquitätenkammern Herzogshüte, Grafen- und Königskronen und
in grauer Vorzeit die Anknüpfungspunkte einer historischen Entwickelung her¬
vor, welche zum Zusammensturz des baufälligen Staatsgebäudes führe." --
Die Kritik über das Verhalten des Ministeriums gipfelte in der schneidenden
Erklärung der Adresse, daß die Negierung, verleitet von dem Wunsch, unfrucht¬
bare, sich ausschließende Gegensätze zu versöhnen, ihre eigene Grundlage unter¬
graben, das öffentliche Rechtsgefühl verwirrt und durch eine Action unter
täuschenden äußern Formen, den Bestand der geltenden positiven Rechts¬
ordnung zu Gunsten unberechtigter Ansprüche in Frage gestellt habe.

In Uebereinstimmung mit diesem vernichtenden Urtheilspruch hatte der


und Volksstämme, den wachsenden Widerstand gegen verfassungsmäßige Insti¬
tutionen und das rücksichtslose Streben auf Lockerung des Reichsverbandes,
Lähmung der Staatsgewalt und anarchische Zersetzung des Innern beleuchtete,
so gab die Adreßdebatte diesen allgemeinen Umrissen noch ein schärferes Relief.
„Noch nie seien föderalistische Tendenzen so unverhüllt aufgetreten, als in
diesem Augenblick, wo die nationale Opposition sich in eine staatsrechtliche
verwandelt habe und volle Selbständigkeit der Königreiche und Länder — einen
Staat Tirol, einen Staat Jstrien, einen Staat Bukowina — verlange und
wo der Drang nach Landesautonomie die Austria in ein Automat zu ver¬
wandeln drohe. Diese trostlose Situation falle zum großen Theil der gegen¬
wärtigen Negierung zur Last und Schuld, die, in sich selbst zerspalten, einen
Januskopf mit den Zügen der Verfassung und den Mienen des Föderalismus
trage und, in unauflösliche Widersprüche verstrickt, mit gesetzlichen Mitteln den
Selbstmord der Verfassung zu vollziehen strebe. Die unleugbare Thatsache, daß
der Minister Petrino in der letzten Session nach Zurückweisung seines unerhörten
Antrags, die Forderungen des Lemberger Landtags für Galizien auch allen
übrigen Landtagen zu bewilligen, nicht blos unter Protest das Abgeordnetenhaus
verlassen, sondern auch einen Versuch zur Sprengung des Reichsraths unter¬
nommen habe, rechtfertige wohl ernste Zweifel an der Verfassungstreue dieses
Mannes. Die Ausgleichsverhandlungen des Ministerpräsidenten mit dem
böhmischen Landtage seien mißlungen; dennoch habe die Regierung gerade in
Prag einen entschiedenen Feind der Verfassung zum Vorsitzenden jener Ver¬
sammlung bestellt, deren Mehrheit ausdrückliche Verwahrung gegen die Giltig-
keit der Verfassung zur Behauptung eines vermeintlichen böhmischen Sonder¬
staatsrechts einlegte. — Während der Erdtheil von dem eisernen Schritt des
wiedererstandenen deutschen Kaisers erdröhne, citiren staatskünstlerische Bosco's
und Döbler's das Gespenst des heiligen Wenzel, um es wider den Gegner
als Grenzhut aufzustellen; während der Urheber des Nationalitätenzwistes in
Lothringen und Elsaß die Vergeltung seiner Schuld erfahre, wolle man hier
den Staat Maria Theresia's in Nationalitäten-Partikel zerlegen, suche in
siebzehn Antiquitätenkammern Herzogshüte, Grafen- und Königskronen und
in grauer Vorzeit die Anknüpfungspunkte einer historischen Entwickelung her¬
vor, welche zum Zusammensturz des baufälligen Staatsgebäudes führe." —
Die Kritik über das Verhalten des Ministeriums gipfelte in der schneidenden
Erklärung der Adresse, daß die Negierung, verleitet von dem Wunsch, unfrucht¬
bare, sich ausschließende Gegensätze zu versöhnen, ihre eigene Grundlage unter¬
graben, das öffentliche Rechtsgefühl verwirrt und durch eine Action unter
täuschenden äußern Formen, den Bestand der geltenden positiven Rechts¬
ordnung zu Gunsten unberechtigter Ansprüche in Frage gestellt habe.

In Uebereinstimmung mit diesem vernichtenden Urtheilspruch hatte der


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[0441] und Volksstämme, den wachsenden Widerstand gegen verfassungsmäßige Insti¬ tutionen und das rücksichtslose Streben auf Lockerung des Reichsverbandes, Lähmung der Staatsgewalt und anarchische Zersetzung des Innern beleuchtete, so gab die Adreßdebatte diesen allgemeinen Umrissen noch ein schärferes Relief. „Noch nie seien föderalistische Tendenzen so unverhüllt aufgetreten, als in diesem Augenblick, wo die nationale Opposition sich in eine staatsrechtliche verwandelt habe und volle Selbständigkeit der Königreiche und Länder — einen Staat Tirol, einen Staat Jstrien, einen Staat Bukowina — verlange und wo der Drang nach Landesautonomie die Austria in ein Automat zu ver¬ wandeln drohe. Diese trostlose Situation falle zum großen Theil der gegen¬ wärtigen Negierung zur Last und Schuld, die, in sich selbst zerspalten, einen Januskopf mit den Zügen der Verfassung und den Mienen des Föderalismus trage und, in unauflösliche Widersprüche verstrickt, mit gesetzlichen Mitteln den Selbstmord der Verfassung zu vollziehen strebe. Die unleugbare Thatsache, daß der Minister Petrino in der letzten Session nach Zurückweisung seines unerhörten Antrags, die Forderungen des Lemberger Landtags für Galizien auch allen übrigen Landtagen zu bewilligen, nicht blos unter Protest das Abgeordnetenhaus verlassen, sondern auch einen Versuch zur Sprengung des Reichsraths unter¬ nommen habe, rechtfertige wohl ernste Zweifel an der Verfassungstreue dieses Mannes. Die Ausgleichsverhandlungen des Ministerpräsidenten mit dem böhmischen Landtage seien mißlungen; dennoch habe die Regierung gerade in Prag einen entschiedenen Feind der Verfassung zum Vorsitzenden jener Ver¬ sammlung bestellt, deren Mehrheit ausdrückliche Verwahrung gegen die Giltig- keit der Verfassung zur Behauptung eines vermeintlichen böhmischen Sonder¬ staatsrechts einlegte. — Während der Erdtheil von dem eisernen Schritt des wiedererstandenen deutschen Kaisers erdröhne, citiren staatskünstlerische Bosco's und Döbler's das Gespenst des heiligen Wenzel, um es wider den Gegner als Grenzhut aufzustellen; während der Urheber des Nationalitätenzwistes in Lothringen und Elsaß die Vergeltung seiner Schuld erfahre, wolle man hier den Staat Maria Theresia's in Nationalitäten-Partikel zerlegen, suche in siebzehn Antiquitätenkammern Herzogshüte, Grafen- und Königskronen und in grauer Vorzeit die Anknüpfungspunkte einer historischen Entwickelung her¬ vor, welche zum Zusammensturz des baufälligen Staatsgebäudes führe." — Die Kritik über das Verhalten des Ministeriums gipfelte in der schneidenden Erklärung der Adresse, daß die Negierung, verleitet von dem Wunsch, unfrucht¬ bare, sich ausschließende Gegensätze zu versöhnen, ihre eigene Grundlage unter¬ graben, das öffentliche Rechtsgefühl verwirrt und durch eine Action unter täuschenden äußern Formen, den Bestand der geltenden positiven Rechts¬ ordnung zu Gunsten unberechtigter Ansprüche in Frage gestellt habe. In Uebereinstimmung mit diesem vernichtenden Urtheilspruch hatte der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/441>, abgerufen am 23.07.2024.