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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Es gibt Beobachter, welche die allgemeine Welthandelskrisis im Früh¬
sommer des Jahres 1866 ihrem ersten Keime nach sogar bis auf den Aus¬
bruch des amerikanischen Bürgerkrieges zurückdatiren. Damals verlor das
ungeheure Capital, welches England in der Baumwollbeziehung aus den
Vereinigten Staaten stecken hatte, durch die Blockade der Südhäfen und den
Stillstand der Production fast auf einmal seine Verwendung. Es mußte sich
nach einer neuen umsehen, und fand dafür begreiflichermaßen nicht lauter
gute Gelegenheiten vor. Ueberspeculation in Eisenbahnen und einer Art
Actien-Fieber, mit Phantasien von raschem Reichwerden verknüpft, waren die
Folge. Für die ausbleibende Baumwollen-Ernte Nordamerikas suchte man
anderswo fast gewaltsam Ersatz zu schaffen, zumal in Ostindien; wie aber
dann die amerikanischen Golf- und Mississippistaaten nach hergestellten Frieden
in die Concurrenz wieder eintreten konnten, bekam das hierauf verwendete
britische Capital den Rückschlag der bewirkten Ueberproduction zu fühlen, und
die Preise der Baumwolle machten neue rapide Tänze durch. Das war unge¬
fähr die Lage der Dinge, als der Dualismus der beiden deutschen Großmächte
über den Zankapfel Schleswig-Holstein zum Kriege trieb. Schon wochenlang
vor dem preußisch-östreichischen Zusammenstoß erklärte sich in England die
Geschäftskreis als anne. Im Mai und während der ersten Hälfte des Juni
kamen solche gewaltige Stürze vor wie Overend, Gurney und Comp. (im
August 1863 zu einer Actiengesellschaft umgewandelt, wo die ursprünglichen
Inhaber noch eine halbe Million Pfund für ihre Kundschaft erhielten, während
das Haus schon mit vier Millionen Pfund überschüttet war), die Agra- und
Mastermans-Bank (in der die ostindischen Beamten ihre Ersparnisse nieder¬
zulegen gewohnt waren), und Pedo und Betts, die großen, in allen Welt¬
theilen beschäftigten Eisenbahn-Unternehmer. Der Discont der Bank von
England stieg auf 10 Procent und hielt sich auf dieser Höhe manche Woche
hindurch, während die Bank von Frankreich ruhig bei 4 Procent stehen
bleiben konnte; die Peel'sche Baulande mußte wieder einmal suspendirt werden.
Deutschland, mit dem Kriege vor der Thür, wurde trotz seiner Unschuld am
englischen Eisenbahnschwindel und ostindischen Baumwollenbau natürlich in
stärkere Mitleidenschaft gezogen, als das damals noch an sich haltende Frank¬
reich. Die lange Kriegsbesorgniß erwies sich mit ihren nervenschwächenden
Folgen schlimmer, als die unmittelbare Einwirkung des Krieges. Daher gab
es auch mehr Bankerotte als 1870. Aber was das Uebelste war: der Friedens¬
schluß machte nicht aller Sorge ein Ende. Süddeutschland blieb im wesent¬
lichen draußen, und über der Pforte, durch die es hatte hereinmarschieren
sollen, hielt das eifersüchtig-übermüthige Frankreich mit schlechtverhehlter
Beutegier Wacht. So blieb dem Patienten, der gestörten Geschäftswelt, eine
immerwährende Reizbarkeit und Schwäche zurück. Man hatte einen bedeu-


Gmizbotm i. 187 l. SS

Es gibt Beobachter, welche die allgemeine Welthandelskrisis im Früh¬
sommer des Jahres 1866 ihrem ersten Keime nach sogar bis auf den Aus¬
bruch des amerikanischen Bürgerkrieges zurückdatiren. Damals verlor das
ungeheure Capital, welches England in der Baumwollbeziehung aus den
Vereinigten Staaten stecken hatte, durch die Blockade der Südhäfen und den
Stillstand der Production fast auf einmal seine Verwendung. Es mußte sich
nach einer neuen umsehen, und fand dafür begreiflichermaßen nicht lauter
gute Gelegenheiten vor. Ueberspeculation in Eisenbahnen und einer Art
Actien-Fieber, mit Phantasien von raschem Reichwerden verknüpft, waren die
Folge. Für die ausbleibende Baumwollen-Ernte Nordamerikas suchte man
anderswo fast gewaltsam Ersatz zu schaffen, zumal in Ostindien; wie aber
dann die amerikanischen Golf- und Mississippistaaten nach hergestellten Frieden
in die Concurrenz wieder eintreten konnten, bekam das hierauf verwendete
britische Capital den Rückschlag der bewirkten Ueberproduction zu fühlen, und
die Preise der Baumwolle machten neue rapide Tänze durch. Das war unge¬
fähr die Lage der Dinge, als der Dualismus der beiden deutschen Großmächte
über den Zankapfel Schleswig-Holstein zum Kriege trieb. Schon wochenlang
vor dem preußisch-östreichischen Zusammenstoß erklärte sich in England die
Geschäftskreis als anne. Im Mai und während der ersten Hälfte des Juni
kamen solche gewaltige Stürze vor wie Overend, Gurney und Comp. (im
August 1863 zu einer Actiengesellschaft umgewandelt, wo die ursprünglichen
Inhaber noch eine halbe Million Pfund für ihre Kundschaft erhielten, während
das Haus schon mit vier Millionen Pfund überschüttet war), die Agra- und
Mastermans-Bank (in der die ostindischen Beamten ihre Ersparnisse nieder¬
zulegen gewohnt waren), und Pedo und Betts, die großen, in allen Welt¬
theilen beschäftigten Eisenbahn-Unternehmer. Der Discont der Bank von
England stieg auf 10 Procent und hielt sich auf dieser Höhe manche Woche
hindurch, während die Bank von Frankreich ruhig bei 4 Procent stehen
bleiben konnte; die Peel'sche Baulande mußte wieder einmal suspendirt werden.
Deutschland, mit dem Kriege vor der Thür, wurde trotz seiner Unschuld am
englischen Eisenbahnschwindel und ostindischen Baumwollenbau natürlich in
stärkere Mitleidenschaft gezogen, als das damals noch an sich haltende Frank¬
reich. Die lange Kriegsbesorgniß erwies sich mit ihren nervenschwächenden
Folgen schlimmer, als die unmittelbare Einwirkung des Krieges. Daher gab
es auch mehr Bankerotte als 1870. Aber was das Uebelste war: der Friedens¬
schluß machte nicht aller Sorge ein Ende. Süddeutschland blieb im wesent¬
lichen draußen, und über der Pforte, durch die es hatte hereinmarschieren
sollen, hielt das eifersüchtig-übermüthige Frankreich mit schlechtverhehlter
Beutegier Wacht. So blieb dem Patienten, der gestörten Geschäftswelt, eine
immerwährende Reizbarkeit und Schwäche zurück. Man hatte einen bedeu-


Gmizbotm i. 187 l. SS
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[0437] Es gibt Beobachter, welche die allgemeine Welthandelskrisis im Früh¬ sommer des Jahres 1866 ihrem ersten Keime nach sogar bis auf den Aus¬ bruch des amerikanischen Bürgerkrieges zurückdatiren. Damals verlor das ungeheure Capital, welches England in der Baumwollbeziehung aus den Vereinigten Staaten stecken hatte, durch die Blockade der Südhäfen und den Stillstand der Production fast auf einmal seine Verwendung. Es mußte sich nach einer neuen umsehen, und fand dafür begreiflichermaßen nicht lauter gute Gelegenheiten vor. Ueberspeculation in Eisenbahnen und einer Art Actien-Fieber, mit Phantasien von raschem Reichwerden verknüpft, waren die Folge. Für die ausbleibende Baumwollen-Ernte Nordamerikas suchte man anderswo fast gewaltsam Ersatz zu schaffen, zumal in Ostindien; wie aber dann die amerikanischen Golf- und Mississippistaaten nach hergestellten Frieden in die Concurrenz wieder eintreten konnten, bekam das hierauf verwendete britische Capital den Rückschlag der bewirkten Ueberproduction zu fühlen, und die Preise der Baumwolle machten neue rapide Tänze durch. Das war unge¬ fähr die Lage der Dinge, als der Dualismus der beiden deutschen Großmächte über den Zankapfel Schleswig-Holstein zum Kriege trieb. Schon wochenlang vor dem preußisch-östreichischen Zusammenstoß erklärte sich in England die Geschäftskreis als anne. Im Mai und während der ersten Hälfte des Juni kamen solche gewaltige Stürze vor wie Overend, Gurney und Comp. (im August 1863 zu einer Actiengesellschaft umgewandelt, wo die ursprünglichen Inhaber noch eine halbe Million Pfund für ihre Kundschaft erhielten, während das Haus schon mit vier Millionen Pfund überschüttet war), die Agra- und Mastermans-Bank (in der die ostindischen Beamten ihre Ersparnisse nieder¬ zulegen gewohnt waren), und Pedo und Betts, die großen, in allen Welt¬ theilen beschäftigten Eisenbahn-Unternehmer. Der Discont der Bank von England stieg auf 10 Procent und hielt sich auf dieser Höhe manche Woche hindurch, während die Bank von Frankreich ruhig bei 4 Procent stehen bleiben konnte; die Peel'sche Baulande mußte wieder einmal suspendirt werden. Deutschland, mit dem Kriege vor der Thür, wurde trotz seiner Unschuld am englischen Eisenbahnschwindel und ostindischen Baumwollenbau natürlich in stärkere Mitleidenschaft gezogen, als das damals noch an sich haltende Frank¬ reich. Die lange Kriegsbesorgniß erwies sich mit ihren nervenschwächenden Folgen schlimmer, als die unmittelbare Einwirkung des Krieges. Daher gab es auch mehr Bankerotte als 1870. Aber was das Uebelste war: der Friedens¬ schluß machte nicht aller Sorge ein Ende. Süddeutschland blieb im wesent¬ lichen draußen, und über der Pforte, durch die es hatte hereinmarschieren sollen, hielt das eifersüchtig-übermüthige Frankreich mit schlechtverhehlter Beutegier Wacht. So blieb dem Patienten, der gestörten Geschäftswelt, eine immerwährende Reizbarkeit und Schwäche zurück. Man hatte einen bedeu- Gmizbotm i. 187 l. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/437>, abgerufen am 23.07.2024.