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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Vorurtheil für Alles, was französisch war, konnte man doch nicht verkennen,
daß man in Vielem gegen die preußische Kriegführung und Ausrüstung noch
weit zurück war. Diese Wahrnehmung mußte um so schmerzlicher sein, als
man schon längst dahin trachtete, auch mit diesem einen Gang zu machen.
Die preußische Neuorganisation unter König Wilhelm I., die er sein eignes
Werk nannte, hatte sich vortrefflich bewährt, und wollte der dritte Nap oleon
dem bereits ins Auge gefaßten Gegner nicht nachstehen, so mußte er ein
Gleiches thun. Dazu gehörte nun zunächst zweierlei: ein organisatorisches
Talent und Geld. Das erstere fand er in dem hvchbefähigten'Marschall
Niet, seinem Generalstabschef, das zweite durch die gefügige Kammer. Nun
ging es sofort an die Reorganisation des Heeres, bei der sich der Kaiser erst
lebhaft selbst betheiligte. Für eine Specialwaffe, die Artillerie, hatte er sich
als früherer Fachmann (als Artillerist im schweizer Volksheere) besonders in-
teressirt und die Einführung der gezogenen Geschütze ist sein Werk. Dazu
kommen noch die Kugelspritzen (Mitrailleusen) als Geschütze für die Infanterie,
und als Handfeuerwaffe für diese das Chassepotgewehr, ein Hinterlader, der
dem preußischen erhebliche Concurrenz machen sollte. In der Formation, wie
in der Taktik traten auch Aenderungen ein. Es erschien damit ein neues
Wehrgesetz und ein Reglement, aber bei beiden erreichte man das nicht, was
man angestrebt hatte. Im Lande wie im Heere stieß man auf abweichende
Ansichten und Vorurtheile, die nur schwer oder gar nicht zu beseitigen waren.
Man hing noch zu sehr am Hergebrachten, Traditionellen, das man von der
früheren ruhmreichen Zeit unzertrennlich glaubte, um allen veralteten Kram
über Bord zu werfen und das erprobte Neue pure zu adoptiren. Der Kaiser
selbst wollte sich von vielem Kleinlichen und bereits Verkommenen nicht
trennen, was unter seinem berühmten Ohm zur Geltung gekommen war.
So waren denn dem Marschall Niet von zwei Seiten her gleich von vorn
herein in Vielem die Hände gebunden. So konnte denn gleich von Haus aus
die Neuorganisation des Heeres keine gründliche, somit auch keine gesunde und
zeitgemäße, sondern nur ein Flickwerk werden.

Man übersah dabei Deutschland gegenüber den Grundpfeiler, auf dem
der große Bau ruhen sollte: die allgemeine Wehrpflicht. Man setzte
diese zwar in Frankreich auch aufs Papier, aber sie blieb todter Buchstabe.
Denn die Stellvertretung oder das Kaufen eines Mannes durch den Wehr¬
pflichtigen, ließ man nach wie vor bestehen. Dabei fanden auch noch Ausnahmen
statt, die zum Theil an die Feudalzeit erinnerten. Statt die Stellvertretung
zu vermindern, wurde sie vielmehr noch erweitert. Sie wurde selbst von den
Offizieren, namentlich den höheren, auf das Zäheste befürwortet. Diese
Stellvertreter, die Troupiers, machten aus dem Stande ein Gewerbe und
blieben, soweit es ihre Jahre gestatteten, bei der Truppe. Aus diesen ging


Vorurtheil für Alles, was französisch war, konnte man doch nicht verkennen,
daß man in Vielem gegen die preußische Kriegführung und Ausrüstung noch
weit zurück war. Diese Wahrnehmung mußte um so schmerzlicher sein, als
man schon längst dahin trachtete, auch mit diesem einen Gang zu machen.
Die preußische Neuorganisation unter König Wilhelm I., die er sein eignes
Werk nannte, hatte sich vortrefflich bewährt, und wollte der dritte Nap oleon
dem bereits ins Auge gefaßten Gegner nicht nachstehen, so mußte er ein
Gleiches thun. Dazu gehörte nun zunächst zweierlei: ein organisatorisches
Talent und Geld. Das erstere fand er in dem hvchbefähigten'Marschall
Niet, seinem Generalstabschef, das zweite durch die gefügige Kammer. Nun
ging es sofort an die Reorganisation des Heeres, bei der sich der Kaiser erst
lebhaft selbst betheiligte. Für eine Specialwaffe, die Artillerie, hatte er sich
als früherer Fachmann (als Artillerist im schweizer Volksheere) besonders in-
teressirt und die Einführung der gezogenen Geschütze ist sein Werk. Dazu
kommen noch die Kugelspritzen (Mitrailleusen) als Geschütze für die Infanterie,
und als Handfeuerwaffe für diese das Chassepotgewehr, ein Hinterlader, der
dem preußischen erhebliche Concurrenz machen sollte. In der Formation, wie
in der Taktik traten auch Aenderungen ein. Es erschien damit ein neues
Wehrgesetz und ein Reglement, aber bei beiden erreichte man das nicht, was
man angestrebt hatte. Im Lande wie im Heere stieß man auf abweichende
Ansichten und Vorurtheile, die nur schwer oder gar nicht zu beseitigen waren.
Man hing noch zu sehr am Hergebrachten, Traditionellen, das man von der
früheren ruhmreichen Zeit unzertrennlich glaubte, um allen veralteten Kram
über Bord zu werfen und das erprobte Neue pure zu adoptiren. Der Kaiser
selbst wollte sich von vielem Kleinlichen und bereits Verkommenen nicht
trennen, was unter seinem berühmten Ohm zur Geltung gekommen war.
So waren denn dem Marschall Niet von zwei Seiten her gleich von vorn
herein in Vielem die Hände gebunden. So konnte denn gleich von Haus aus
die Neuorganisation des Heeres keine gründliche, somit auch keine gesunde und
zeitgemäße, sondern nur ein Flickwerk werden.

Man übersah dabei Deutschland gegenüber den Grundpfeiler, auf dem
der große Bau ruhen sollte: die allgemeine Wehrpflicht. Man setzte
diese zwar in Frankreich auch aufs Papier, aber sie blieb todter Buchstabe.
Denn die Stellvertretung oder das Kaufen eines Mannes durch den Wehr¬
pflichtigen, ließ man nach wie vor bestehen. Dabei fanden auch noch Ausnahmen
statt, die zum Theil an die Feudalzeit erinnerten. Statt die Stellvertretung
zu vermindern, wurde sie vielmehr noch erweitert. Sie wurde selbst von den
Offizieren, namentlich den höheren, auf das Zäheste befürwortet. Diese
Stellvertreter, die Troupiers, machten aus dem Stande ein Gewerbe und
blieben, soweit es ihre Jahre gestatteten, bei der Truppe. Aus diesen ging


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[0147] Vorurtheil für Alles, was französisch war, konnte man doch nicht verkennen, daß man in Vielem gegen die preußische Kriegführung und Ausrüstung noch weit zurück war. Diese Wahrnehmung mußte um so schmerzlicher sein, als man schon längst dahin trachtete, auch mit diesem einen Gang zu machen. Die preußische Neuorganisation unter König Wilhelm I., die er sein eignes Werk nannte, hatte sich vortrefflich bewährt, und wollte der dritte Nap oleon dem bereits ins Auge gefaßten Gegner nicht nachstehen, so mußte er ein Gleiches thun. Dazu gehörte nun zunächst zweierlei: ein organisatorisches Talent und Geld. Das erstere fand er in dem hvchbefähigten'Marschall Niet, seinem Generalstabschef, das zweite durch die gefügige Kammer. Nun ging es sofort an die Reorganisation des Heeres, bei der sich der Kaiser erst lebhaft selbst betheiligte. Für eine Specialwaffe, die Artillerie, hatte er sich als früherer Fachmann (als Artillerist im schweizer Volksheere) besonders in- teressirt und die Einführung der gezogenen Geschütze ist sein Werk. Dazu kommen noch die Kugelspritzen (Mitrailleusen) als Geschütze für die Infanterie, und als Handfeuerwaffe für diese das Chassepotgewehr, ein Hinterlader, der dem preußischen erhebliche Concurrenz machen sollte. In der Formation, wie in der Taktik traten auch Aenderungen ein. Es erschien damit ein neues Wehrgesetz und ein Reglement, aber bei beiden erreichte man das nicht, was man angestrebt hatte. Im Lande wie im Heere stieß man auf abweichende Ansichten und Vorurtheile, die nur schwer oder gar nicht zu beseitigen waren. Man hing noch zu sehr am Hergebrachten, Traditionellen, das man von der früheren ruhmreichen Zeit unzertrennlich glaubte, um allen veralteten Kram über Bord zu werfen und das erprobte Neue pure zu adoptiren. Der Kaiser selbst wollte sich von vielem Kleinlichen und bereits Verkommenen nicht trennen, was unter seinem berühmten Ohm zur Geltung gekommen war. So waren denn dem Marschall Niet von zwei Seiten her gleich von vorn herein in Vielem die Hände gebunden. So konnte denn gleich von Haus aus die Neuorganisation des Heeres keine gründliche, somit auch keine gesunde und zeitgemäße, sondern nur ein Flickwerk werden. Man übersah dabei Deutschland gegenüber den Grundpfeiler, auf dem der große Bau ruhen sollte: die allgemeine Wehrpflicht. Man setzte diese zwar in Frankreich auch aufs Papier, aber sie blieb todter Buchstabe. Denn die Stellvertretung oder das Kaufen eines Mannes durch den Wehr¬ pflichtigen, ließ man nach wie vor bestehen. Dabei fanden auch noch Ausnahmen statt, die zum Theil an die Feudalzeit erinnerten. Statt die Stellvertretung zu vermindern, wurde sie vielmehr noch erweitert. Sie wurde selbst von den Offizieren, namentlich den höheren, auf das Zäheste befürwortet. Diese Stellvertreter, die Troupiers, machten aus dem Stande ein Gewerbe und blieben, soweit es ihre Jahre gestatteten, bei der Truppe. Aus diesen ging

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/147>, abgerufen am 23.07.2024.