Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Strom, Hain, Feld und Auen, über Wiesen und Bäche und das ganze
unübersehbare reiche, blühende, grünende Land bis zu den fernen dunkeln
Bergen, hier zu den Vogesen, dort zum Schwarzwald . . . Freust Du Dich
auch. Du stolzes Riesenkind, daß Dein Blick, so weit er reicht, jetzt wieder
nur auf deutschen Boden fällt? Gleichwie der Straßburger Münster aus
tiefreligiösen Gefühle entstanden, sich zum Himmel erhob, ein Ausdruck
ringenden und sehnenden Verlangens nach Oben, so war auch noch die Kunst
des fünfzehnten Jahrhunderts von rein christlichem Geiste erfüllt. Das sehen
wir z. B. an Martin Schongauer (1420--1499) "unbedingt der größte
deutsche Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts". Eine h. Jungfrau im
Rosenhag ist sein Hauptwerk. "Frommes Entzücken spricht sich aber
nur in den Mienen, nur in den Köpfen aus. Hier ist der Meister auf seinem
Feld. Da hat er Schönheitsgefühl und Formensinn, alles, was zu den
höchsten Leistungen befähigt; aber das Nackte, Beine, Arme, Hände sind mager,
unschön, im Bewegten oft verzeichnet. Es ist, als ob er den Körper gering
geachtet hätte, um ganz sich in die Darstellung der Seele zu versenken. Nur
im Milden und Heiligen ist er zu Hause. Er war eine weiche Natur
und den Charakter des Zerfließenden trägt alles, was er geschaffen." -- Ganz
anderen Charakteren begegnet man kurze Zeit später, in den Tagen der Bor¬
reformation und Reformation. Hans Waldung Grien (1- 1645) schon
ist ein Anderer! "Die feineren Bedürfnisse des Gemüthes sind verschwunden,
die zartbesaiteten Seelen haben sich verloren. Ein Hünengeschlecht ist aufge¬
treten, das starke Kost brauchte. Ein Geschlecht, das die Geduld verlor
und dreinschlug. Ein handelndes Geschlecht, das keine Zeit zu innerer
Sammlung, zur Beschaulichkeit und zur Betrachtung findet. Man ar¬
beitet für den Tag, nicht für die Ewigkeit." Demgemäß gestaltet sich
auch die Literatur zu einer Tendenzliteratur für immer größere Kreise
um, das Publikum ist ein zahlreiches, die Lesewelt hat sich erweitert,
das Lcsebedürfniß ist ungleich intensiver geworden, die Befriedigung desselben
durch Gutenberg's geniale Erfindung -- der vierundzwanzig Jahre in
Straßburgs Mauern weilte -- eine erleichterte, allgemeinere. Aber auch das
Local, für das die Literatur wirkt, die Stände, die sie beeinflußt, sind andere
geworden; war der aristokratische Salon "die sociale Voraussetzung der
Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, so ist die des 13. und 16. die bür¬
gerliche Kneipe", in der Spielleute und Flugblätter vor Allem mächtig wir¬
ken. Uebermüthige, kecke Weltmenschen erheben sich gegen das Bestehende,
vorzüglich gegen den allgemein verachteten Klerus mit einem durchaus moder¬
nen Factor, mit der Macht des selbstbewußten, trotzig verwegenen Individua¬
lismus. Und inmitten in dieser "lustigen, frivolen, im Innersten aufgewühlten
Gesellschaft", traten gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts drei redliche


und Strom, Hain, Feld und Auen, über Wiesen und Bäche und das ganze
unübersehbare reiche, blühende, grünende Land bis zu den fernen dunkeln
Bergen, hier zu den Vogesen, dort zum Schwarzwald . . . Freust Du Dich
auch. Du stolzes Riesenkind, daß Dein Blick, so weit er reicht, jetzt wieder
nur auf deutschen Boden fällt? Gleichwie der Straßburger Münster aus
tiefreligiösen Gefühle entstanden, sich zum Himmel erhob, ein Ausdruck
ringenden und sehnenden Verlangens nach Oben, so war auch noch die Kunst
des fünfzehnten Jahrhunderts von rein christlichem Geiste erfüllt. Das sehen
wir z. B. an Martin Schongauer (1420—1499) „unbedingt der größte
deutsche Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts". Eine h. Jungfrau im
Rosenhag ist sein Hauptwerk. „Frommes Entzücken spricht sich aber
nur in den Mienen, nur in den Köpfen aus. Hier ist der Meister auf seinem
Feld. Da hat er Schönheitsgefühl und Formensinn, alles, was zu den
höchsten Leistungen befähigt; aber das Nackte, Beine, Arme, Hände sind mager,
unschön, im Bewegten oft verzeichnet. Es ist, als ob er den Körper gering
geachtet hätte, um ganz sich in die Darstellung der Seele zu versenken. Nur
im Milden und Heiligen ist er zu Hause. Er war eine weiche Natur
und den Charakter des Zerfließenden trägt alles, was er geschaffen." — Ganz
anderen Charakteren begegnet man kurze Zeit später, in den Tagen der Bor¬
reformation und Reformation. Hans Waldung Grien (1- 1645) schon
ist ein Anderer! „Die feineren Bedürfnisse des Gemüthes sind verschwunden,
die zartbesaiteten Seelen haben sich verloren. Ein Hünengeschlecht ist aufge¬
treten, das starke Kost brauchte. Ein Geschlecht, das die Geduld verlor
und dreinschlug. Ein handelndes Geschlecht, das keine Zeit zu innerer
Sammlung, zur Beschaulichkeit und zur Betrachtung findet. Man ar¬
beitet für den Tag, nicht für die Ewigkeit." Demgemäß gestaltet sich
auch die Literatur zu einer Tendenzliteratur für immer größere Kreise
um, das Publikum ist ein zahlreiches, die Lesewelt hat sich erweitert,
das Lcsebedürfniß ist ungleich intensiver geworden, die Befriedigung desselben
durch Gutenberg's geniale Erfindung — der vierundzwanzig Jahre in
Straßburgs Mauern weilte — eine erleichterte, allgemeinere. Aber auch das
Local, für das die Literatur wirkt, die Stände, die sie beeinflußt, sind andere
geworden; war der aristokratische Salon „die sociale Voraussetzung der
Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, so ist die des 13. und 16. die bür¬
gerliche Kneipe", in der Spielleute und Flugblätter vor Allem mächtig wir¬
ken. Uebermüthige, kecke Weltmenschen erheben sich gegen das Bestehende,
vorzüglich gegen den allgemein verachteten Klerus mit einem durchaus moder¬
nen Factor, mit der Macht des selbstbewußten, trotzig verwegenen Individua¬
lismus. Und inmitten in dieser „lustigen, frivolen, im Innersten aufgewühlten
Gesellschaft", traten gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts drei redliche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125387"/>
          <p xml:id="ID_512" prev="#ID_511" next="#ID_513"> und Strom, Hain, Feld und Auen, über Wiesen und Bäche und das ganze<lb/>
unübersehbare reiche, blühende, grünende Land bis zu den fernen dunkeln<lb/>
Bergen, hier zu den Vogesen, dort zum Schwarzwald . . . Freust Du Dich<lb/>
auch. Du stolzes Riesenkind, daß Dein Blick, so weit er reicht, jetzt wieder<lb/>
nur auf deutschen Boden fällt? Gleichwie der Straßburger Münster aus<lb/>
tiefreligiösen Gefühle entstanden, sich zum Himmel erhob, ein Ausdruck<lb/>
ringenden und sehnenden Verlangens nach Oben, so war auch noch die Kunst<lb/>
des fünfzehnten Jahrhunderts von rein christlichem Geiste erfüllt. Das sehen<lb/>
wir z. B. an Martin Schongauer (1420&#x2014;1499) &#x201E;unbedingt der größte<lb/>
deutsche Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts". Eine h. Jungfrau im<lb/>
Rosenhag ist sein Hauptwerk. &#x201E;Frommes Entzücken spricht sich aber<lb/>
nur in den Mienen, nur in den Köpfen aus. Hier ist der Meister auf seinem<lb/>
Feld. Da hat er Schönheitsgefühl und Formensinn, alles, was zu den<lb/>
höchsten Leistungen befähigt; aber das Nackte, Beine, Arme, Hände sind mager,<lb/>
unschön, im Bewegten oft verzeichnet. Es ist, als ob er den Körper gering<lb/>
geachtet hätte, um ganz sich in die Darstellung der Seele zu versenken. Nur<lb/>
im Milden und Heiligen ist er zu Hause. Er war eine weiche Natur<lb/>
und den Charakter des Zerfließenden trägt alles, was er geschaffen." &#x2014; Ganz<lb/>
anderen Charakteren begegnet man kurze Zeit später, in den Tagen der Bor¬<lb/>
reformation und Reformation. Hans Waldung Grien (1- 1645) schon<lb/>
ist ein Anderer! &#x201E;Die feineren Bedürfnisse des Gemüthes sind verschwunden,<lb/>
die zartbesaiteten Seelen haben sich verloren. Ein Hünengeschlecht ist aufge¬<lb/>
treten, das starke Kost brauchte. Ein Geschlecht, das die Geduld verlor<lb/>
und dreinschlug. Ein handelndes Geschlecht, das keine Zeit zu innerer<lb/>
Sammlung, zur Beschaulichkeit und zur Betrachtung findet. Man ar¬<lb/>
beitet für den Tag, nicht für die Ewigkeit." Demgemäß gestaltet sich<lb/>
auch die Literatur zu einer Tendenzliteratur für immer größere Kreise<lb/>
um, das Publikum ist ein zahlreiches, die Lesewelt hat sich erweitert,<lb/>
das Lcsebedürfniß ist ungleich intensiver geworden, die Befriedigung desselben<lb/>
durch Gutenberg's geniale Erfindung &#x2014; der vierundzwanzig Jahre in<lb/>
Straßburgs Mauern weilte &#x2014; eine erleichterte, allgemeinere. Aber auch das<lb/>
Local, für das die Literatur wirkt, die Stände, die sie beeinflußt, sind andere<lb/>
geworden; war der aristokratische Salon &#x201E;die sociale Voraussetzung der<lb/>
Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, so ist die des 13. und 16. die bür¬<lb/>
gerliche Kneipe", in der Spielleute und Flugblätter vor Allem mächtig wir¬<lb/>
ken. Uebermüthige, kecke Weltmenschen erheben sich gegen das Bestehende,<lb/>
vorzüglich gegen den allgemein verachteten Klerus mit einem durchaus moder¬<lb/>
nen Factor, mit der Macht des selbstbewußten, trotzig verwegenen Individua¬<lb/>
lismus. Und inmitten in dieser &#x201E;lustigen, frivolen, im Innersten aufgewühlten<lb/>
Gesellschaft", traten gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts drei redliche</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0143] und Strom, Hain, Feld und Auen, über Wiesen und Bäche und das ganze unübersehbare reiche, blühende, grünende Land bis zu den fernen dunkeln Bergen, hier zu den Vogesen, dort zum Schwarzwald . . . Freust Du Dich auch. Du stolzes Riesenkind, daß Dein Blick, so weit er reicht, jetzt wieder nur auf deutschen Boden fällt? Gleichwie der Straßburger Münster aus tiefreligiösen Gefühle entstanden, sich zum Himmel erhob, ein Ausdruck ringenden und sehnenden Verlangens nach Oben, so war auch noch die Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts von rein christlichem Geiste erfüllt. Das sehen wir z. B. an Martin Schongauer (1420—1499) „unbedingt der größte deutsche Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts". Eine h. Jungfrau im Rosenhag ist sein Hauptwerk. „Frommes Entzücken spricht sich aber nur in den Mienen, nur in den Köpfen aus. Hier ist der Meister auf seinem Feld. Da hat er Schönheitsgefühl und Formensinn, alles, was zu den höchsten Leistungen befähigt; aber das Nackte, Beine, Arme, Hände sind mager, unschön, im Bewegten oft verzeichnet. Es ist, als ob er den Körper gering geachtet hätte, um ganz sich in die Darstellung der Seele zu versenken. Nur im Milden und Heiligen ist er zu Hause. Er war eine weiche Natur und den Charakter des Zerfließenden trägt alles, was er geschaffen." — Ganz anderen Charakteren begegnet man kurze Zeit später, in den Tagen der Bor¬ reformation und Reformation. Hans Waldung Grien (1- 1645) schon ist ein Anderer! „Die feineren Bedürfnisse des Gemüthes sind verschwunden, die zartbesaiteten Seelen haben sich verloren. Ein Hünengeschlecht ist aufge¬ treten, das starke Kost brauchte. Ein Geschlecht, das die Geduld verlor und dreinschlug. Ein handelndes Geschlecht, das keine Zeit zu innerer Sammlung, zur Beschaulichkeit und zur Betrachtung findet. Man ar¬ beitet für den Tag, nicht für die Ewigkeit." Demgemäß gestaltet sich auch die Literatur zu einer Tendenzliteratur für immer größere Kreise um, das Publikum ist ein zahlreiches, die Lesewelt hat sich erweitert, das Lcsebedürfniß ist ungleich intensiver geworden, die Befriedigung desselben durch Gutenberg's geniale Erfindung — der vierundzwanzig Jahre in Straßburgs Mauern weilte — eine erleichterte, allgemeinere. Aber auch das Local, für das die Literatur wirkt, die Stände, die sie beeinflußt, sind andere geworden; war der aristokratische Salon „die sociale Voraussetzung der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, so ist die des 13. und 16. die bür¬ gerliche Kneipe", in der Spielleute und Flugblätter vor Allem mächtig wir¬ ken. Uebermüthige, kecke Weltmenschen erheben sich gegen das Bestehende, vorzüglich gegen den allgemein verachteten Klerus mit einem durchaus moder¬ nen Factor, mit der Macht des selbstbewußten, trotzig verwegenen Individua¬ lismus. Und inmitten in dieser „lustigen, frivolen, im Innersten aufgewühlten Gesellschaft", traten gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts drei redliche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/143
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/143>, abgerufen am 25.07.2024.