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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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um die Abfassung geschichtlicher Werke bemühen. Freilich, wie primitiv zu
Anfang! Da macht ein Mönch z. B. Aufzeichnungen von Jahr zu Jahr,
mit der Naivität eines jungen Mädchens, das ihr Tagebuch führt und ein
neues Kleid, das sie bekommt, mit derselben Wichtigkeit einträgt, wie die Ca-
pitulation von Sedan. Wenn man sich den Inhalt einer Zeitung bunt durch¬
einander gewürfelt denkt, jetzt ein Stück Feuilleton, dann ein Stück Inland,
jetzt ein Stück Tagesneuigkeiten, dann ein Stück Ausland, jetzt ein Stück
Volkswirtschaftliches, dann ein Stück Meteorologisches; so bekommt man un¬
gefähr ein Bild dieser sonderbaren Arbeit. Doch neben Solchen gab es auch
Historiker von der Bedeutung eines Jakob Twinger von Königs!) ofen,
der weithin berühmt ward durch seine jenen Tagen vorauseilenden Werke,
sein kerndeutsches und geschicktes Wesen. "Seine Arbeit war nicht blos
Stadtchronik von Straßburg und Landeschronik vom Elsaß, sie war auch ein
Abriß der Universalgeschichte von der Schöpfung bis auf die Gegenwart
-- mit durch sie ist die Erweiterung des geschichtlichen Bewußtseins auf den
gesammten Inhalt der Weltbegebenheiten für einen großen Theil unseres
Volkes von Straßburg ausgegangen, von Straßburg, das in dieser Weise
einst zu einem Centrum unserer Historiographie geworden war. Aber daneben
auch ein Centrum des deutschen Mysticismus! Wer kennt sie nicht die
Eckart und Tauler, die Gottesfreunde mit ihren den Spener'schen Pie¬
tisten verwandten Anschauungen und ihrem verzückten, aus tiefreligiösen Seh¬
nen hervorgehenden Gebahren?"

Besonders sorgfältig und lebendig sind die Partien über die elsässischen
Kunstbestrebungen und Kunstwerke gearbeitet. So viel auch über den Stra߬
burger Münster geschrieben worden ist, zu den feinsinnigsten Schilderungen
gehört die vorliegende Darlegung, wie er geworden, die Schilderung dessen,
was die geniale Begabung Erwin von Steinbach's geleistet und gewollt
hat. Erwin hat Straßburg, die Hauptstadt des Ketzerthums, des Mysticis¬
mus, der Geschichtschreibung, auch zur Hauptstadt der Baukunst gemacht. --
Der gewaltige Eindruck, den von Enea Sylvio bis Goethe und die Heu¬
tigen Jeder von jenem leider nicht nach seinem Plane vollendeten Denkmale
empfangen, dieser Eindruck ist die Kunst des Planes Erwin's von Steinbach.
Aber auch Anderes gibt Straßburgs Münster zu bedenken. "War es nicht
der Ausdruck unserer tiefsten Erniedrigung" -- fragen die Verfasser --, "daß
wir den Schatz nicht mehr zu hüten vermochten? Und ist es nicht wieder der
Ausdruck unserer neugeborenen nationalen Ehre, daß wir ihn zurückgewon¬
nen haben? -- Er liegt da, als ob sich einer jener alten Steinriesen hinge¬
lagert hätte, von denen die heidnischen Lieder wissen, und dem alten grauen
bärtigen Mann ist ein schlankes, zierliches, lebensfrisches Kind auf die Schulter
gestiegen, streckt sich hock) in die Höhe und guckt neugierig hinaus über Stadt


um die Abfassung geschichtlicher Werke bemühen. Freilich, wie primitiv zu
Anfang! Da macht ein Mönch z. B. Aufzeichnungen von Jahr zu Jahr,
mit der Naivität eines jungen Mädchens, das ihr Tagebuch führt und ein
neues Kleid, das sie bekommt, mit derselben Wichtigkeit einträgt, wie die Ca-
pitulation von Sedan. Wenn man sich den Inhalt einer Zeitung bunt durch¬
einander gewürfelt denkt, jetzt ein Stück Feuilleton, dann ein Stück Inland,
jetzt ein Stück Tagesneuigkeiten, dann ein Stück Ausland, jetzt ein Stück
Volkswirtschaftliches, dann ein Stück Meteorologisches; so bekommt man un¬
gefähr ein Bild dieser sonderbaren Arbeit. Doch neben Solchen gab es auch
Historiker von der Bedeutung eines Jakob Twinger von Königs!) ofen,
der weithin berühmt ward durch seine jenen Tagen vorauseilenden Werke,
sein kerndeutsches und geschicktes Wesen. „Seine Arbeit war nicht blos
Stadtchronik von Straßburg und Landeschronik vom Elsaß, sie war auch ein
Abriß der Universalgeschichte von der Schöpfung bis auf die Gegenwart
— mit durch sie ist die Erweiterung des geschichtlichen Bewußtseins auf den
gesammten Inhalt der Weltbegebenheiten für einen großen Theil unseres
Volkes von Straßburg ausgegangen, von Straßburg, das in dieser Weise
einst zu einem Centrum unserer Historiographie geworden war. Aber daneben
auch ein Centrum des deutschen Mysticismus! Wer kennt sie nicht die
Eckart und Tauler, die Gottesfreunde mit ihren den Spener'schen Pie¬
tisten verwandten Anschauungen und ihrem verzückten, aus tiefreligiösen Seh¬
nen hervorgehenden Gebahren?"

Besonders sorgfältig und lebendig sind die Partien über die elsässischen
Kunstbestrebungen und Kunstwerke gearbeitet. So viel auch über den Stra߬
burger Münster geschrieben worden ist, zu den feinsinnigsten Schilderungen
gehört die vorliegende Darlegung, wie er geworden, die Schilderung dessen,
was die geniale Begabung Erwin von Steinbach's geleistet und gewollt
hat. Erwin hat Straßburg, die Hauptstadt des Ketzerthums, des Mysticis¬
mus, der Geschichtschreibung, auch zur Hauptstadt der Baukunst gemacht. —
Der gewaltige Eindruck, den von Enea Sylvio bis Goethe und die Heu¬
tigen Jeder von jenem leider nicht nach seinem Plane vollendeten Denkmale
empfangen, dieser Eindruck ist die Kunst des Planes Erwin's von Steinbach.
Aber auch Anderes gibt Straßburgs Münster zu bedenken. „War es nicht
der Ausdruck unserer tiefsten Erniedrigung" — fragen die Verfasser —, „daß
wir den Schatz nicht mehr zu hüten vermochten? Und ist es nicht wieder der
Ausdruck unserer neugeborenen nationalen Ehre, daß wir ihn zurückgewon¬
nen haben? — Er liegt da, als ob sich einer jener alten Steinriesen hinge¬
lagert hätte, von denen die heidnischen Lieder wissen, und dem alten grauen
bärtigen Mann ist ein schlankes, zierliches, lebensfrisches Kind auf die Schulter
gestiegen, streckt sich hock) in die Höhe und guckt neugierig hinaus über Stadt


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[0142] um die Abfassung geschichtlicher Werke bemühen. Freilich, wie primitiv zu Anfang! Da macht ein Mönch z. B. Aufzeichnungen von Jahr zu Jahr, mit der Naivität eines jungen Mädchens, das ihr Tagebuch führt und ein neues Kleid, das sie bekommt, mit derselben Wichtigkeit einträgt, wie die Ca- pitulation von Sedan. Wenn man sich den Inhalt einer Zeitung bunt durch¬ einander gewürfelt denkt, jetzt ein Stück Feuilleton, dann ein Stück Inland, jetzt ein Stück Tagesneuigkeiten, dann ein Stück Ausland, jetzt ein Stück Volkswirtschaftliches, dann ein Stück Meteorologisches; so bekommt man un¬ gefähr ein Bild dieser sonderbaren Arbeit. Doch neben Solchen gab es auch Historiker von der Bedeutung eines Jakob Twinger von Königs!) ofen, der weithin berühmt ward durch seine jenen Tagen vorauseilenden Werke, sein kerndeutsches und geschicktes Wesen. „Seine Arbeit war nicht blos Stadtchronik von Straßburg und Landeschronik vom Elsaß, sie war auch ein Abriß der Universalgeschichte von der Schöpfung bis auf die Gegenwart — mit durch sie ist die Erweiterung des geschichtlichen Bewußtseins auf den gesammten Inhalt der Weltbegebenheiten für einen großen Theil unseres Volkes von Straßburg ausgegangen, von Straßburg, das in dieser Weise einst zu einem Centrum unserer Historiographie geworden war. Aber daneben auch ein Centrum des deutschen Mysticismus! Wer kennt sie nicht die Eckart und Tauler, die Gottesfreunde mit ihren den Spener'schen Pie¬ tisten verwandten Anschauungen und ihrem verzückten, aus tiefreligiösen Seh¬ nen hervorgehenden Gebahren?" Besonders sorgfältig und lebendig sind die Partien über die elsässischen Kunstbestrebungen und Kunstwerke gearbeitet. So viel auch über den Stra߬ burger Münster geschrieben worden ist, zu den feinsinnigsten Schilderungen gehört die vorliegende Darlegung, wie er geworden, die Schilderung dessen, was die geniale Begabung Erwin von Steinbach's geleistet und gewollt hat. Erwin hat Straßburg, die Hauptstadt des Ketzerthums, des Mysticis¬ mus, der Geschichtschreibung, auch zur Hauptstadt der Baukunst gemacht. — Der gewaltige Eindruck, den von Enea Sylvio bis Goethe und die Heu¬ tigen Jeder von jenem leider nicht nach seinem Plane vollendeten Denkmale empfangen, dieser Eindruck ist die Kunst des Planes Erwin's von Steinbach. Aber auch Anderes gibt Straßburgs Münster zu bedenken. „War es nicht der Ausdruck unserer tiefsten Erniedrigung" — fragen die Verfasser —, „daß wir den Schatz nicht mehr zu hüten vermochten? Und ist es nicht wieder der Ausdruck unserer neugeborenen nationalen Ehre, daß wir ihn zurückgewon¬ nen haben? — Er liegt da, als ob sich einer jener alten Steinriesen hinge¬ lagert hätte, von denen die heidnischen Lieder wissen, und dem alten grauen bärtigen Mann ist ein schlankes, zierliches, lebensfrisches Kind auf die Schulter gestiegen, streckt sich hock) in die Höhe und guckt neugierig hinaus über Stadt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/142>, abgerufen am 04.07.2024.