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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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in unserem Heere an, daß die eingeschlossene Armee von Bazaine -- fünf
Corps und Trümmer versprengter Regimenter, zusammen 120,000 bis 130,000
Mann -- sich etwa bis Mitte September werde halten können, weil man auf
Grund erhaltener Nachrichten eine Verproviantirung der Festung auf
drei Monate für eine Besatzung von etwa 30,000 Mann vorhanden glaubte.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Franzosen größere Massen von Proviant
in der Festung zusammengebracht hatten. Aber aus unzweifelhaften An¬
zeichen ist zu schließen, daß jetzt wenigstens die Fleischvorräthe erschöpft
und die Verlegenheiten des Befehlshabers sehr gesteigert sind. Darauf
weisen auch die häufigen Ausfälle der letzten Zeit. Man würde freilich
irren, wenn man bei jedem größeren Ausfalle schon jetzt das Bestreben
Bazaine's aufzubrechen voraussetzte. Er mag entweder die Absicht haben,
Transporte von Lebensmitteln aufzunehmen, oder das eingeschlossene Heer
wieder an den Kampf mit dem gefürchteten Gegner zu gewöhnen und
durch die kleinen Erfolge zu ermuthigen, welche der belagerten Armee bei
einem Vorstoß größerer Massen gegen die Vortruppen des Belagerers in Aus¬
sicht stehn und von diesem bei der größten Umsicht und militärischen Überlegen¬
heit nicht ganz zu verhindern sind. Denn wenn der Belagerte die Vorposten
des Feindes zurückgeworfen und in günstiger Stellung durch einige Zeit den
Andrang der heraneilenden nächsten Belagerungstruppen aufgehalten hat,
vermag er sich in der Regel ohne große Verluste in den Schutz seiner Festungs¬
geschütze zurückzuziehen und wohl auch eine Anzahl Gefangener mitzuführen.
Solche Ausfälle geben beiden Theilen das Selbstgefühl eines Erfolges, den
Auffallenden, weil sie im Anfange die Feinde auf eiligem Rückzüge gesehn
haben, den Belagerern, weil sie zuletzt den Feind zurückdrängten. Nur darf
der Belagerte nicht den rechten Zeitpunkt des Rückzugs versäumen. -- Der
Charakter Bazaine's macht wahrscheinlich, daß er für sich nicht den Ausgang
von Sedan und Straßburg wählen, sondern zuletzt doch mit äußerster Kraft
einen Durchbruch nach dem Süden versuchen wird. Ihm muß, wenn er sich noch
als kaiserlicher General betrachtet, als That von entscheidender Wichtigkeit
erscheinen, ein wenn auch nur kleines kaiserliches Heer in das Chaos der fran¬
zösischen Parteien zu führen. Unsere Feldherrn werden sich durch den mög¬
lichen politischen Nutzen eines solchen Zwischenspiels nicht hindern lassen, mit
äußerster Anspannung ihm beim Ausbruch und durch Verfolgung dasselbe
Schicksal zu bereiten, welches die anderen Theile des französischen Heeres
in deutsche Festungen geführt hat.

Als in mehrtägiger Rast zu Rheims die Anschließung von Paris
festgesetzt wurde, hegte man die Hoffnung, daß die Einnahme dieser
Hauptstadt aufgeregter Schwindler mit möglichster Schonung des werth¬
volleren deutschen Blutes erreicht werden könne durch eine feste Um-


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in unserem Heere an, daß die eingeschlossene Armee von Bazaine — fünf
Corps und Trümmer versprengter Regimenter, zusammen 120,000 bis 130,000
Mann — sich etwa bis Mitte September werde halten können, weil man auf
Grund erhaltener Nachrichten eine Verproviantirung der Festung auf
drei Monate für eine Besatzung von etwa 30,000 Mann vorhanden glaubte.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Franzosen größere Massen von Proviant
in der Festung zusammengebracht hatten. Aber aus unzweifelhaften An¬
zeichen ist zu schließen, daß jetzt wenigstens die Fleischvorräthe erschöpft
und die Verlegenheiten des Befehlshabers sehr gesteigert sind. Darauf
weisen auch die häufigen Ausfälle der letzten Zeit. Man würde freilich
irren, wenn man bei jedem größeren Ausfalle schon jetzt das Bestreben
Bazaine's aufzubrechen voraussetzte. Er mag entweder die Absicht haben,
Transporte von Lebensmitteln aufzunehmen, oder das eingeschlossene Heer
wieder an den Kampf mit dem gefürchteten Gegner zu gewöhnen und
durch die kleinen Erfolge zu ermuthigen, welche der belagerten Armee bei
einem Vorstoß größerer Massen gegen die Vortruppen des Belagerers in Aus¬
sicht stehn und von diesem bei der größten Umsicht und militärischen Überlegen¬
heit nicht ganz zu verhindern sind. Denn wenn der Belagerte die Vorposten
des Feindes zurückgeworfen und in günstiger Stellung durch einige Zeit den
Andrang der heraneilenden nächsten Belagerungstruppen aufgehalten hat,
vermag er sich in der Regel ohne große Verluste in den Schutz seiner Festungs¬
geschütze zurückzuziehen und wohl auch eine Anzahl Gefangener mitzuführen.
Solche Ausfälle geben beiden Theilen das Selbstgefühl eines Erfolges, den
Auffallenden, weil sie im Anfange die Feinde auf eiligem Rückzüge gesehn
haben, den Belagerern, weil sie zuletzt den Feind zurückdrängten. Nur darf
der Belagerte nicht den rechten Zeitpunkt des Rückzugs versäumen. — Der
Charakter Bazaine's macht wahrscheinlich, daß er für sich nicht den Ausgang
von Sedan und Straßburg wählen, sondern zuletzt doch mit äußerster Kraft
einen Durchbruch nach dem Süden versuchen wird. Ihm muß, wenn er sich noch
als kaiserlicher General betrachtet, als That von entscheidender Wichtigkeit
erscheinen, ein wenn auch nur kleines kaiserliches Heer in das Chaos der fran¬
zösischen Parteien zu führen. Unsere Feldherrn werden sich durch den mög¬
lichen politischen Nutzen eines solchen Zwischenspiels nicht hindern lassen, mit
äußerster Anspannung ihm beim Ausbruch und durch Verfolgung dasselbe
Schicksal zu bereiten, welches die anderen Theile des französischen Heeres
in deutsche Festungen geführt hat.

Als in mehrtägiger Rast zu Rheims die Anschließung von Paris
festgesetzt wurde, hegte man die Hoffnung, daß die Einnahme dieser
Hauptstadt aufgeregter Schwindler mit möglichster Schonung des werth¬
volleren deutschen Blutes erreicht werden könne durch eine feste Um-


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[0083] in unserem Heere an, daß die eingeschlossene Armee von Bazaine — fünf Corps und Trümmer versprengter Regimenter, zusammen 120,000 bis 130,000 Mann — sich etwa bis Mitte September werde halten können, weil man auf Grund erhaltener Nachrichten eine Verproviantirung der Festung auf drei Monate für eine Besatzung von etwa 30,000 Mann vorhanden glaubte. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Franzosen größere Massen von Proviant in der Festung zusammengebracht hatten. Aber aus unzweifelhaften An¬ zeichen ist zu schließen, daß jetzt wenigstens die Fleischvorräthe erschöpft und die Verlegenheiten des Befehlshabers sehr gesteigert sind. Darauf weisen auch die häufigen Ausfälle der letzten Zeit. Man würde freilich irren, wenn man bei jedem größeren Ausfalle schon jetzt das Bestreben Bazaine's aufzubrechen voraussetzte. Er mag entweder die Absicht haben, Transporte von Lebensmitteln aufzunehmen, oder das eingeschlossene Heer wieder an den Kampf mit dem gefürchteten Gegner zu gewöhnen und durch die kleinen Erfolge zu ermuthigen, welche der belagerten Armee bei einem Vorstoß größerer Massen gegen die Vortruppen des Belagerers in Aus¬ sicht stehn und von diesem bei der größten Umsicht und militärischen Überlegen¬ heit nicht ganz zu verhindern sind. Denn wenn der Belagerte die Vorposten des Feindes zurückgeworfen und in günstiger Stellung durch einige Zeit den Andrang der heraneilenden nächsten Belagerungstruppen aufgehalten hat, vermag er sich in der Regel ohne große Verluste in den Schutz seiner Festungs¬ geschütze zurückzuziehen und wohl auch eine Anzahl Gefangener mitzuführen. Solche Ausfälle geben beiden Theilen das Selbstgefühl eines Erfolges, den Auffallenden, weil sie im Anfange die Feinde auf eiligem Rückzüge gesehn haben, den Belagerern, weil sie zuletzt den Feind zurückdrängten. Nur darf der Belagerte nicht den rechten Zeitpunkt des Rückzugs versäumen. — Der Charakter Bazaine's macht wahrscheinlich, daß er für sich nicht den Ausgang von Sedan und Straßburg wählen, sondern zuletzt doch mit äußerster Kraft einen Durchbruch nach dem Süden versuchen wird. Ihm muß, wenn er sich noch als kaiserlicher General betrachtet, als That von entscheidender Wichtigkeit erscheinen, ein wenn auch nur kleines kaiserliches Heer in das Chaos der fran¬ zösischen Parteien zu führen. Unsere Feldherrn werden sich durch den mög¬ lichen politischen Nutzen eines solchen Zwischenspiels nicht hindern lassen, mit äußerster Anspannung ihm beim Ausbruch und durch Verfolgung dasselbe Schicksal zu bereiten, welches die anderen Theile des französischen Heeres in deutsche Festungen geführt hat. Als in mehrtägiger Rast zu Rheims die Anschließung von Paris festgesetzt wurde, hegte man die Hoffnung, daß die Einnahme dieser Hauptstadt aufgeregter Schwindler mit möglichster Schonung des werth¬ volleren deutschen Blutes erreicht werden könne durch eine feste Um- 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/83>, abgerufen am 22.12.2024.