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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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frechen Angreifer zerschmettert hat, brauchen wir uns dieses Schamgefühls
nicht zu schämen; wurzelt doch in ihm der starke einmüthige Wille, vergangene
Schuld zu sühnen, uns mit dem guten Schwert jene Garantieen zu erobern,
welche die letzten Schatten einer trüben ungesunden Vergangenheit auf alle
Zukunft bannen werden.

Ein ernster Act historischer Gerechtigkeit vollzieht sich in dieser Episode
des nationalen Krieges. Es gab keine Wahl: mit Blut und Eisen allein
konnte und mußte zurückgekauft werden, was durch schmachvolle Schwäche dem
deutschen Lande verloren gegangen und entfremdet war.

Straßburg hat einen andern 28. September gehabt. Seltsames Spiel
des Zufalls, daß der Tag, da die französische Besatzung kriegsgefangen die
Waffen streckt, der Jahrestag der französischen Occupation ist. Am 28.
September 1681 war es, daß General Montclar, der willige Scherge
Ludwigs XIV., die Vorwerke Straßburgs im tiefen Frieden überrumpelte,
und Louvois' Drohungen jähen Schrecken in die Bürgerschaft warfen. Zwei
Tage darauf war die freie Reichsstadt, der Hort deutscher Art unb Kunst
im Südwesten des Reichs, eine französische Stadt. Die Bürgerschaft fand
gegen Ludwig XIV. nicht wie 130 Jahre zuvor gegen Heinrich II., Willen
und Kraft zu einem opfervoller Widerstand, der dem Bedränger wohl ernste
Verlegenheiten bei den europäischen Mächten hätte bereiten können. Das
deutsche Reich in seiner Zerrissenheit und Elendigkeit hatte gegen die uner¬
hörte Vergewaltigung nur Schmerzensschreie und Proteste. Mit geballter
Faust, aber ohne die Hand zu regen, verzweifelnd fügten sich die Bürger
Straßburgs und sahen den französischen König durch ihr Thor einziehen.

Heute, am Jahrestag seiner schnöden Gewaltthat, ziehen die deutschen
Schaaren in Straßburg ein, nicht in die unvertheidigte Stadt, sondern nach
einem Monat schwerer Prüfung in Belagerung und Elend, und nicht als Be¬
freier begrüßt -- wie Straßburg sie damals ersehnte --, sondern als siegreiche
Feinde mit ingrimmiger Resignation aufgenommen. Heute ballen die fana-
tisirten durch Kampf und Entbehrung erbitterten Bürger die Faust wohl
gegen den deutschen Sieger, der ihr Stammgenoß ist, und fluchen ihrem Ge¬
schick, das sie kennen, wieder Deutsche werden zu sollen.

Hundertneunundachtzig Jahre einer schimpflichen Zerrüttung und Agonie
auf der einen, fortgesetzter Unterdrückung und eines rücksichtslos gleichmachen¬
den Staatssystems auf der andern Seite, vor Allem die Schicksalsgemeinschast
mit Frankreich in den vulkanischen Umwälzungen seit 1789 haben solche Ver¬
änderung bewirkt und es dahin gebracht, daß dem Sraßburger (wir sagen
nicht Elsässer) die Stammgemeinsamkeit mit Deutschland, eine neunhundert¬
jährige Geschichte gemeinsamen Zusammenlebens in Aufstreben und Kampf,
Erhebung und Unglück, aus allen Gebieten nur wie ein serner Traum, ja


frechen Angreifer zerschmettert hat, brauchen wir uns dieses Schamgefühls
nicht zu schämen; wurzelt doch in ihm der starke einmüthige Wille, vergangene
Schuld zu sühnen, uns mit dem guten Schwert jene Garantieen zu erobern,
welche die letzten Schatten einer trüben ungesunden Vergangenheit auf alle
Zukunft bannen werden.

Ein ernster Act historischer Gerechtigkeit vollzieht sich in dieser Episode
des nationalen Krieges. Es gab keine Wahl: mit Blut und Eisen allein
konnte und mußte zurückgekauft werden, was durch schmachvolle Schwäche dem
deutschen Lande verloren gegangen und entfremdet war.

Straßburg hat einen andern 28. September gehabt. Seltsames Spiel
des Zufalls, daß der Tag, da die französische Besatzung kriegsgefangen die
Waffen streckt, der Jahrestag der französischen Occupation ist. Am 28.
September 1681 war es, daß General Montclar, der willige Scherge
Ludwigs XIV., die Vorwerke Straßburgs im tiefen Frieden überrumpelte,
und Louvois' Drohungen jähen Schrecken in die Bürgerschaft warfen. Zwei
Tage darauf war die freie Reichsstadt, der Hort deutscher Art unb Kunst
im Südwesten des Reichs, eine französische Stadt. Die Bürgerschaft fand
gegen Ludwig XIV. nicht wie 130 Jahre zuvor gegen Heinrich II., Willen
und Kraft zu einem opfervoller Widerstand, der dem Bedränger wohl ernste
Verlegenheiten bei den europäischen Mächten hätte bereiten können. Das
deutsche Reich in seiner Zerrissenheit und Elendigkeit hatte gegen die uner¬
hörte Vergewaltigung nur Schmerzensschreie und Proteste. Mit geballter
Faust, aber ohne die Hand zu regen, verzweifelnd fügten sich die Bürger
Straßburgs und sahen den französischen König durch ihr Thor einziehen.

Heute, am Jahrestag seiner schnöden Gewaltthat, ziehen die deutschen
Schaaren in Straßburg ein, nicht in die unvertheidigte Stadt, sondern nach
einem Monat schwerer Prüfung in Belagerung und Elend, und nicht als Be¬
freier begrüßt — wie Straßburg sie damals ersehnte —, sondern als siegreiche
Feinde mit ingrimmiger Resignation aufgenommen. Heute ballen die fana-
tisirten durch Kampf und Entbehrung erbitterten Bürger die Faust wohl
gegen den deutschen Sieger, der ihr Stammgenoß ist, und fluchen ihrem Ge¬
schick, das sie kennen, wieder Deutsche werden zu sollen.

Hundertneunundachtzig Jahre einer schimpflichen Zerrüttung und Agonie
auf der einen, fortgesetzter Unterdrückung und eines rücksichtslos gleichmachen¬
den Staatssystems auf der andern Seite, vor Allem die Schicksalsgemeinschast
mit Frankreich in den vulkanischen Umwälzungen seit 1789 haben solche Ver¬
änderung bewirkt und es dahin gebracht, daß dem Sraßburger (wir sagen
nicht Elsässer) die Stammgemeinsamkeit mit Deutschland, eine neunhundert¬
jährige Geschichte gemeinsamen Zusammenlebens in Aufstreben und Kampf,
Erhebung und Unglück, aus allen Gebieten nur wie ein serner Traum, ja


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/71>, abgerufen am 22.12.2024.