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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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öffentliche Meinung Englands zwar langsam, aber doch sicher sich aus ihrer
Lethargie erhebt. Noch sympathisiren zwar die eigentlichen Toryblätter mit
dem gefallenen Kaiserthum und die Socialdemokraten der Iraäes Unious
mit dem revolutionären Frankreich, von dem sie Erfüllung ihrer internatio¬
nalen Chimären hoffen, aber in den tüchtigsten Organen der Mittelklassen,
"Daily News", "spectator", "Economist" und vor Allem in der "Times", diesem
charakterlosen aber zuverlässigen Barometer der öffentlichen Meinung, bricht
immer mehr das Gefühl hervor, daß Deutschland Europas Schlachten schlägt.
Neuerdings hat auch ein alter Diplomat, Sir Henry Bulwer, indirect hiefür
Zeugniß abgelegt. Er leugnet in seinen Zuschriften an die "Times", daß
England seine volle Pflicht gethan, um den Krieg zu verhindern. "Hätten
wir", sagte er, "nachdem der Prinz von Hohenzollern seine Candidatur zurück¬
gezogen, unserer Ansicht in würdiger und fester Weise Nachdruck verschafft,
so würden wir nicht Zeugen dieses unheilvollen Krieges gewesen sein. Aber
die englische Auffassung war damals so getrübt und durch einen furchtsamen,
mißtrauischen und falsch rechnenden Egoismus so beherrscht, daß ich zweifle,
ob man einen Minister, der gefühlt hätte, daß anscheinende Kühnheit wahre
Klugheit gewesen wäre, verstanden hätte. So groß war der Mangel an Ernst
bei uns, daß wir nicht einmal ernsthaft neutral zu sein wußten, sondern un¬
sere Neutralität nur in einer halbschlächtigen, unbefriedigender und krämer-
haften Weise zu behaupten wußten, der Art, daß wir in diesem Augenblick
als Freund von der einen Macht verachtet und als Feind von der andern
angeklagt werden." -- Und in der "Pakt-Malt-Gazette" finden wir folgendes
Geständniß: "Die Wahrheit ist, daß wir gar keine auswärtige Politik haben
und in dieser Hinsicht stehen wir fast, wenn nicht ganz allein, unter allen
Nationen der Erde. Eine große Nation mit einer kleinen Politik hört
bald auf, groß zu sein, und eine Nation ohne Politik hört praktisch auf,
überall eine Nation zu sein. England mit Reichthum, Ehre und Bildung,
kurz mit Allem gesegnet, was ihm die größte Macht über die Schicksale der
Welt geben könnte, hat seine Action darauf beschränkt, Charpie zu zupfen.
Meisterhafte Unthätigkeit ist seine ganze Politik gewesen; unsere Keller sind
mit Gold gefüllt, aber wir haben die Kunst des Krieges und was noch
schlimmer ist, unsere Staatskunst, ja unsern Namen, unsre Macht, mit einem
Wort Alles, außer der Respectabilität verloren. Wie der moderne Kirch¬
spielsvorsteher sich zu Pitt, For oder Canning verhält, so steht das heutige
England zu dem unsrer Vorfahren." Eine solche Sprache der Presse wie der
unabhängigen Parlamentsmitglieder deutet auf einen tiefen Umschwung der
öffentlichen Stimmung hin. Allerdings wird sich derselbe erst langsam in
die Sphären der Negierung fortpflanzen, Löwe und Gladstone werden
vorläufig fortfahren, nur an den Ueberschuß im Budget und innere Refor-


öffentliche Meinung Englands zwar langsam, aber doch sicher sich aus ihrer
Lethargie erhebt. Noch sympathisiren zwar die eigentlichen Toryblätter mit
dem gefallenen Kaiserthum und die Socialdemokraten der Iraäes Unious
mit dem revolutionären Frankreich, von dem sie Erfüllung ihrer internatio¬
nalen Chimären hoffen, aber in den tüchtigsten Organen der Mittelklassen,
„Daily News", „spectator", „Economist" und vor Allem in der „Times", diesem
charakterlosen aber zuverlässigen Barometer der öffentlichen Meinung, bricht
immer mehr das Gefühl hervor, daß Deutschland Europas Schlachten schlägt.
Neuerdings hat auch ein alter Diplomat, Sir Henry Bulwer, indirect hiefür
Zeugniß abgelegt. Er leugnet in seinen Zuschriften an die „Times", daß
England seine volle Pflicht gethan, um den Krieg zu verhindern. „Hätten
wir", sagte er, „nachdem der Prinz von Hohenzollern seine Candidatur zurück¬
gezogen, unserer Ansicht in würdiger und fester Weise Nachdruck verschafft,
so würden wir nicht Zeugen dieses unheilvollen Krieges gewesen sein. Aber
die englische Auffassung war damals so getrübt und durch einen furchtsamen,
mißtrauischen und falsch rechnenden Egoismus so beherrscht, daß ich zweifle,
ob man einen Minister, der gefühlt hätte, daß anscheinende Kühnheit wahre
Klugheit gewesen wäre, verstanden hätte. So groß war der Mangel an Ernst
bei uns, daß wir nicht einmal ernsthaft neutral zu sein wußten, sondern un¬
sere Neutralität nur in einer halbschlächtigen, unbefriedigender und krämer-
haften Weise zu behaupten wußten, der Art, daß wir in diesem Augenblick
als Freund von der einen Macht verachtet und als Feind von der andern
angeklagt werden." — Und in der „Pakt-Malt-Gazette" finden wir folgendes
Geständniß: „Die Wahrheit ist, daß wir gar keine auswärtige Politik haben
und in dieser Hinsicht stehen wir fast, wenn nicht ganz allein, unter allen
Nationen der Erde. Eine große Nation mit einer kleinen Politik hört
bald auf, groß zu sein, und eine Nation ohne Politik hört praktisch auf,
überall eine Nation zu sein. England mit Reichthum, Ehre und Bildung,
kurz mit Allem gesegnet, was ihm die größte Macht über die Schicksale der
Welt geben könnte, hat seine Action darauf beschränkt, Charpie zu zupfen.
Meisterhafte Unthätigkeit ist seine ganze Politik gewesen; unsere Keller sind
mit Gold gefüllt, aber wir haben die Kunst des Krieges und was noch
schlimmer ist, unsere Staatskunst, ja unsern Namen, unsre Macht, mit einem
Wort Alles, außer der Respectabilität verloren. Wie der moderne Kirch¬
spielsvorsteher sich zu Pitt, For oder Canning verhält, so steht das heutige
England zu dem unsrer Vorfahren." Eine solche Sprache der Presse wie der
unabhängigen Parlamentsmitglieder deutet auf einen tiefen Umschwung der
öffentlichen Stimmung hin. Allerdings wird sich derselbe erst langsam in
die Sphären der Negierung fortpflanzen, Löwe und Gladstone werden
vorläufig fortfahren, nur an den Ueberschuß im Budget und innere Refor-


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[0064] öffentliche Meinung Englands zwar langsam, aber doch sicher sich aus ihrer Lethargie erhebt. Noch sympathisiren zwar die eigentlichen Toryblätter mit dem gefallenen Kaiserthum und die Socialdemokraten der Iraäes Unious mit dem revolutionären Frankreich, von dem sie Erfüllung ihrer internatio¬ nalen Chimären hoffen, aber in den tüchtigsten Organen der Mittelklassen, „Daily News", „spectator", „Economist" und vor Allem in der „Times", diesem charakterlosen aber zuverlässigen Barometer der öffentlichen Meinung, bricht immer mehr das Gefühl hervor, daß Deutschland Europas Schlachten schlägt. Neuerdings hat auch ein alter Diplomat, Sir Henry Bulwer, indirect hiefür Zeugniß abgelegt. Er leugnet in seinen Zuschriften an die „Times", daß England seine volle Pflicht gethan, um den Krieg zu verhindern. „Hätten wir", sagte er, „nachdem der Prinz von Hohenzollern seine Candidatur zurück¬ gezogen, unserer Ansicht in würdiger und fester Weise Nachdruck verschafft, so würden wir nicht Zeugen dieses unheilvollen Krieges gewesen sein. Aber die englische Auffassung war damals so getrübt und durch einen furchtsamen, mißtrauischen und falsch rechnenden Egoismus so beherrscht, daß ich zweifle, ob man einen Minister, der gefühlt hätte, daß anscheinende Kühnheit wahre Klugheit gewesen wäre, verstanden hätte. So groß war der Mangel an Ernst bei uns, daß wir nicht einmal ernsthaft neutral zu sein wußten, sondern un¬ sere Neutralität nur in einer halbschlächtigen, unbefriedigender und krämer- haften Weise zu behaupten wußten, der Art, daß wir in diesem Augenblick als Freund von der einen Macht verachtet und als Feind von der andern angeklagt werden." — Und in der „Pakt-Malt-Gazette" finden wir folgendes Geständniß: „Die Wahrheit ist, daß wir gar keine auswärtige Politik haben und in dieser Hinsicht stehen wir fast, wenn nicht ganz allein, unter allen Nationen der Erde. Eine große Nation mit einer kleinen Politik hört bald auf, groß zu sein, und eine Nation ohne Politik hört praktisch auf, überall eine Nation zu sein. England mit Reichthum, Ehre und Bildung, kurz mit Allem gesegnet, was ihm die größte Macht über die Schicksale der Welt geben könnte, hat seine Action darauf beschränkt, Charpie zu zupfen. Meisterhafte Unthätigkeit ist seine ganze Politik gewesen; unsere Keller sind mit Gold gefüllt, aber wir haben die Kunst des Krieges und was noch schlimmer ist, unsere Staatskunst, ja unsern Namen, unsre Macht, mit einem Wort Alles, außer der Respectabilität verloren. Wie der moderne Kirch¬ spielsvorsteher sich zu Pitt, For oder Canning verhält, so steht das heutige England zu dem unsrer Vorfahren." Eine solche Sprache der Presse wie der unabhängigen Parlamentsmitglieder deutet auf einen tiefen Umschwung der öffentlichen Stimmung hin. Allerdings wird sich derselbe erst langsam in die Sphären der Negierung fortpflanzen, Löwe und Gladstone werden vorläufig fortfahren, nur an den Ueberschuß im Budget und innere Refor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/64>, abgerufen am 22.12.2024.