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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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durch die Kriegskosten der Wohlstand der Metzer schwer geschädigt wurde,
so nahm auch die Volksmenge seit dem Untergange der Freiheit gewaltig
ab, am stärksten durch die religiöse Unduldsamkeit. Während die Stadt in
ihrer Blüthezeit am Ausgange des Mittelalters, in derselben Periode, in der
ihre stolze gothische Kathedrale vollendet wurde, mindestens 60.000 Seelen
zählte, betrug ihre Bevölkerung am Ende des siebzehnten Jahrhundert nur
noch 22,000. Am meisten wurden die Reihen der alten Familien gelichtet,
an deren Stelle eine neue Aristokratie von französischen Beamten mit fran¬
zösischen Sitten und Unsitten getreten ist, doch hielt sich von dieser die eigent¬
liche Bürgerschaft noch lange in spröder Abschlteßung. Wenn die Stadt auch
in den friedlicheren Zeiten seit Ludwig XV. sich allmählich wieder gehoben
hat. so besitzt sie doch gegenwärtig kaum so viel Einwohner, wie schon zur
Zeit ihrer Neichsfreihett.

Möchte das neue deutsche Reich, indem es an Stelle der alles selb¬
ständige Leben ertödtenden französischen Einförmigkeit den Metzern bürger¬
liche und religiöse Freiheit zurückgibt, möchte es bei ihnen einen Nachhall
jener Gesinnungen wecken, die einst ihre mannhaften Vorfahren groß, glück¬
lich und reichstreu gemacht haben!


Ernst Dümmler.


Das VerfassungsbimdmD des deutschen Reiches.

Wir haben -- salvo oonseusu der süddeutschen Landesvertretungen --
den Kaiser und das Reich: der Traum von Generationen scheint erfüllt
-- aber wer kann behaupten, daß ein Hauch freudiger Begeisterung durch
Deutschlands Gauen gehe? Mancherlei Ursachen wirken zusammen, um diese
auf den ersten Blick allerdings befremdende Erscheinung herbeizuführen. Zu¬
nächst eine gewisse Abspannung als Folge des stets neue Blutopfer fordern¬
den Krieges, dessen Ende noch immer nicht abgesehen werden kann. Dann
auch die überraschende Art, wie Alles gleich einem Wetter über uns herein¬
gebrochen ist. Endlich aber und zumeist der Inhalt und das Wesen des
neuen Verfassungsbündnisses. Denn welcher denkende Patriot hat sich bei
Erwägung der Bestimmungen unseres neuen öffentlichen Rechts nicht die
besorgte Frage vorgelegt: haben wir denn mit dem einen deutschen Ober¬
haupt auch den einen deutschen Staat erhalten?

Soviel steht heute schon fest: unsere in bundesstaatlicher Richtung be¬
gonnene Verfassungsentwickelung ist zunächst in eine rückläufige Bewegung


durch die Kriegskosten der Wohlstand der Metzer schwer geschädigt wurde,
so nahm auch die Volksmenge seit dem Untergange der Freiheit gewaltig
ab, am stärksten durch die religiöse Unduldsamkeit. Während die Stadt in
ihrer Blüthezeit am Ausgange des Mittelalters, in derselben Periode, in der
ihre stolze gothische Kathedrale vollendet wurde, mindestens 60.000 Seelen
zählte, betrug ihre Bevölkerung am Ende des siebzehnten Jahrhundert nur
noch 22,000. Am meisten wurden die Reihen der alten Familien gelichtet,
an deren Stelle eine neue Aristokratie von französischen Beamten mit fran¬
zösischen Sitten und Unsitten getreten ist, doch hielt sich von dieser die eigent¬
liche Bürgerschaft noch lange in spröder Abschlteßung. Wenn die Stadt auch
in den friedlicheren Zeiten seit Ludwig XV. sich allmählich wieder gehoben
hat. so besitzt sie doch gegenwärtig kaum so viel Einwohner, wie schon zur
Zeit ihrer Neichsfreihett.

Möchte das neue deutsche Reich, indem es an Stelle der alles selb¬
ständige Leben ertödtenden französischen Einförmigkeit den Metzern bürger¬
liche und religiöse Freiheit zurückgibt, möchte es bei ihnen einen Nachhall
jener Gesinnungen wecken, die einst ihre mannhaften Vorfahren groß, glück¬
lich und reichstreu gemacht haben!


Ernst Dümmler.


Das VerfassungsbimdmD des deutschen Reiches.

Wir haben — salvo oonseusu der süddeutschen Landesvertretungen —
den Kaiser und das Reich: der Traum von Generationen scheint erfüllt
— aber wer kann behaupten, daß ein Hauch freudiger Begeisterung durch
Deutschlands Gauen gehe? Mancherlei Ursachen wirken zusammen, um diese
auf den ersten Blick allerdings befremdende Erscheinung herbeizuführen. Zu¬
nächst eine gewisse Abspannung als Folge des stets neue Blutopfer fordern¬
den Krieges, dessen Ende noch immer nicht abgesehen werden kann. Dann
auch die überraschende Art, wie Alles gleich einem Wetter über uns herein¬
gebrochen ist. Endlich aber und zumeist der Inhalt und das Wesen des
neuen Verfassungsbündnisses. Denn welcher denkende Patriot hat sich bei
Erwägung der Bestimmungen unseres neuen öffentlichen Rechts nicht die
besorgte Frage vorgelegt: haben wir denn mit dem einen deutschen Ober¬
haupt auch den einen deutschen Staat erhalten?

Soviel steht heute schon fest: unsere in bundesstaatlicher Richtung be¬
gonnene Verfassungsentwickelung ist zunächst in eine rückläufige Bewegung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/503>, abgerufen am 22.12.2024.