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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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cirte. Landgraf Friedrich der Aweite verwendete einen Theil der colossalen
Summen, die ihm der Soldatenhandel eintrug, auf Wilhelmshöhe (Weißen¬
stein). Namentlich verdankt es ihm das komische chinesische Dorf Mou-Lang
nebst Moschee und Pagode u. s. w.

scholl behauptet nun: In der Strafanstalt, welche zwischen Kassel und
Wilhelmshöhe liegt, machen die Gefangenen Käfige. Das erklärt den "Vogel¬
bauer." Die an England zur Verwendung nach Amerika verkauften Landes¬
kinder aber sind die "Vöglein." Letzteres ist nun ohne Zweifel richtig. Auch
Ersteres hat xrims, visw viel für sich. Mir kam es jedoch bedenklich vor,
daß bei dieser Auslegung Goethe aus dem Bilde fällt, was man bei ihm nie
vermuthen darf. Sind bei ihm die Menschen Vögel, so sind die Vogelbauer
auch Häuser. Ein Goethe sperrt nicht Menschen in Käfige.

Dieser Zweifel an der Auslegung des Herrn Schöll führte mich zu fol¬
genden Nachforschungen: Allerdings steht jetzt eine Strafanstalt zwischen Kassel
und Wilhelmshöhe, gleich rechts an der Allee, wenn man Kassel hinter sich
hat. Allein existirte dieselbe schon 1781? Nein! Sie ist entstanden zur Zeit
des Königs Jörome von Westphalen und war ursprünglich Kaserne. Die
Stadt hat sie gebaut, weil d?n Bürgern die fortwährende Einquartierung
unerträglich wurde. Sie erhielt dagegen die Versicherung der Quartierfreiheit
auf ewige Zeiten, die leider nicht immer gehalten wurde. Als der "König
Luschtigk" vor den herannahenden Kosacken geflohen und der alte Kurfürst
wieder eingerückt war, fand letzterer, daß eine unter französischer Herrschaft
entstandene Kaserne nicht würdig sei, hessische Soldaten in sich aufzunehmen,
namentlich nachdem letztere mit dem Zopfe, dem Symbol altchattischer Treue,
wieder ausgestattet waren. Kurfürst Wilhelm I. verwandelte diese "städtische
Kaserne" in eine Strafanstalt; und das ist sie noch. Daß in derselben je
die Gefangenen mit der Fabrikation von Käfigen beschäftigt worden sind,
konnte ich nicht ermitteln. Ein Gefängnißbeamter, den ich befragte, bezweifelte
es. Das wäre zu unpraktisch, meinte er. Jedenfalls aber existirte 1781 hier
keine Strafanstalt.

Wir müssen demnach die "Vogelbauer" an einer anderen Stelle zwischen
Kassel und Weißenstein suchen. Treten wir also die Wanderung an. Wir
gehen von der Königstraße in Kassel aus über das Rundel, durch die Wil¬
helmshöher Vorstadt. Die Strafanstalt lassen wir rechts liegen. Auf der¬
selben Seite liegt ein Dorf, Kirchenditmold genannt, -- ein verstümmelter
Name; ursprünglich Dict-Mal, d. h. die Gerichtsstelle, die Malstätte für das
dortige Gau; dann kommt ein zweites Dorf rechts: Wahlershausen. Links,
ebenfalls wie jene zwei Dörfer, eine gute Strecke an der Straße, der Allee
ab, liegt das Dorf Wehlheiden,'dann kommt das "lange Feld", auf welchem
die kurfürstliche Armee ihre Herbstmanöver zu halten pflegte. Sonst ist nichts


cirte. Landgraf Friedrich der Aweite verwendete einen Theil der colossalen
Summen, die ihm der Soldatenhandel eintrug, auf Wilhelmshöhe (Weißen¬
stein). Namentlich verdankt es ihm das komische chinesische Dorf Mou-Lang
nebst Moschee und Pagode u. s. w.

scholl behauptet nun: In der Strafanstalt, welche zwischen Kassel und
Wilhelmshöhe liegt, machen die Gefangenen Käfige. Das erklärt den „Vogel¬
bauer." Die an England zur Verwendung nach Amerika verkauften Landes¬
kinder aber sind die „Vöglein." Letzteres ist nun ohne Zweifel richtig. Auch
Ersteres hat xrims, visw viel für sich. Mir kam es jedoch bedenklich vor,
daß bei dieser Auslegung Goethe aus dem Bilde fällt, was man bei ihm nie
vermuthen darf. Sind bei ihm die Menschen Vögel, so sind die Vogelbauer
auch Häuser. Ein Goethe sperrt nicht Menschen in Käfige.

Dieser Zweifel an der Auslegung des Herrn Schöll führte mich zu fol¬
genden Nachforschungen: Allerdings steht jetzt eine Strafanstalt zwischen Kassel
und Wilhelmshöhe, gleich rechts an der Allee, wenn man Kassel hinter sich
hat. Allein existirte dieselbe schon 1781? Nein! Sie ist entstanden zur Zeit
des Königs Jörome von Westphalen und war ursprünglich Kaserne. Die
Stadt hat sie gebaut, weil d?n Bürgern die fortwährende Einquartierung
unerträglich wurde. Sie erhielt dagegen die Versicherung der Quartierfreiheit
auf ewige Zeiten, die leider nicht immer gehalten wurde. Als der „König
Luschtigk" vor den herannahenden Kosacken geflohen und der alte Kurfürst
wieder eingerückt war, fand letzterer, daß eine unter französischer Herrschaft
entstandene Kaserne nicht würdig sei, hessische Soldaten in sich aufzunehmen,
namentlich nachdem letztere mit dem Zopfe, dem Symbol altchattischer Treue,
wieder ausgestattet waren. Kurfürst Wilhelm I. verwandelte diese „städtische
Kaserne" in eine Strafanstalt; und das ist sie noch. Daß in derselben je
die Gefangenen mit der Fabrikation von Käfigen beschäftigt worden sind,
konnte ich nicht ermitteln. Ein Gefängnißbeamter, den ich befragte, bezweifelte
es. Das wäre zu unpraktisch, meinte er. Jedenfalls aber existirte 1781 hier
keine Strafanstalt.

Wir müssen demnach die „Vogelbauer" an einer anderen Stelle zwischen
Kassel und Weißenstein suchen. Treten wir also die Wanderung an. Wir
gehen von der Königstraße in Kassel aus über das Rundel, durch die Wil¬
helmshöher Vorstadt. Die Strafanstalt lassen wir rechts liegen. Auf der¬
selben Seite liegt ein Dorf, Kirchenditmold genannt, — ein verstümmelter
Name; ursprünglich Dict-Mal, d. h. die Gerichtsstelle, die Malstätte für das
dortige Gau; dann kommt ein zweites Dorf rechts: Wahlershausen. Links,
ebenfalls wie jene zwei Dörfer, eine gute Strecke an der Straße, der Allee
ab, liegt das Dorf Wehlheiden,'dann kommt das „lange Feld", auf welchem
die kurfürstliche Armee ihre Herbstmanöver zu halten pflegte. Sonst ist nichts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/47>, abgerufen am 22.12.2024.