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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Griese aus der Sturm- und Drangperiode. II.
6.
I. M. Mill er an Kayser.

Ulm den 16 Oct. 1775.

Glück zu liebster Kaiser! Wenn mir kein Strich durch die Rechnung
gemacht wird, so reif ich von heut über 14 Tage von hier ab und umarme
dich in zween Tagen drauf. Denk einmal! Was das herrlich seyn wird!
Heut schrieben mir die Grafen*) von Bern aus: In 4 Wochen würden sie hier
seyn. Ich sollte sie wo möglich zwischen 14 Tagen und drey Wochen
in Zürich abholen und das thu ich auch, wenn, nichts sehr wichtiges
es mir unmöglich macht. Ich magh nicht versuchen auszudrücken, was wir
dann zusammen empfinden werden! Jetzt beantwort ich, in der Hofnung,
Dich bald selbst zu sprechen, nur das Nötigste aus Deinem lieben Brief.
Ein herber Schnuppen macht, daß ich ihn erst jetzt beantworte. 1. Zu den
beyden Liedern schick ich Dir noch ein Wiegenlied*) das du vielleicht auch
mit gebrauchen kannst. 2) An Vosz habe ich wegen Deiner Verse schon ge¬
schrieben; aber der Weg zu ihm ist weit und er antwortet etwas langsam.
Da sein Almanach jetzt schon gedrukt ist, so darfst du ohne Sorge seyn. Er
gibt die Gedichte gewiß keinem Fremden. 3. Für Dein Physiognomisches
Lied dank ich Dir von Hertzen Es gefällt mir sehr. Die Anrede an die
Natur ist so warm und wirkt ins Herz; besonders schön deucht mir: daß
jeder Blik zum Himmel auf und jeder in die Welt :c. Die Liebe hab ich
gar gern dabey. Man sollte sie zur Göttin jeder und besonders dieser Kunst
machen. Nochmals hab Dank für Dein braves warmes Lied! 4. Lentz
Schatten war mir sehr willkommen. Ich hatt ihn schon bey Klingern ge¬
sehen. Es ist ein gar herrliches Gesicht, voll edeln Herzens. Seine Ueber¬
setzung von Officin hab ich nicht gesehen, denn Iris passirt hier nicht.
S. Von meiner größern Arbeit mündlich! 6, Leisewitz hat in Göttingen
studirt und ist unser Freund. Im Almanach ist von ihm die Pfändung und
der Besuch um Mitternacht. Sein Trauerspiel hab ich größtentheils gesehen
Es hat viel vorzügliches. Oft ists zu studirt, zu Lessingisch. In der Ge¬
schichte ist Leisewitz stark. Vielleicht wird er der erste deutsche Geschichts¬
schreiber. Er denkt sehr brav und ich lieb ihn sehr. 7. Claudius schreibt




') v, Stolberg.
") Am Ende des Briefs mitgetheilt; weggeblieben weil in Millers Gedichten S. 367. Es
hat im Mön. folgende Varianten: Heisser als dieß Mutterherz -- Kommen niederwärts -- Weil
die Engel wachen -- Morgen wirst Du mir gewiß, froh entgegen lachen.
Griese aus der Sturm- und Drangperiode. II.
6.
I. M. Mill er an Kayser.

Ulm den 16 Oct. 1775.

Glück zu liebster Kaiser! Wenn mir kein Strich durch die Rechnung
gemacht wird, so reif ich von heut über 14 Tage von hier ab und umarme
dich in zween Tagen drauf. Denk einmal! Was das herrlich seyn wird!
Heut schrieben mir die Grafen*) von Bern aus: In 4 Wochen würden sie hier
seyn. Ich sollte sie wo möglich zwischen 14 Tagen und drey Wochen
in Zürich abholen und das thu ich auch, wenn, nichts sehr wichtiges
es mir unmöglich macht. Ich magh nicht versuchen auszudrücken, was wir
dann zusammen empfinden werden! Jetzt beantwort ich, in der Hofnung,
Dich bald selbst zu sprechen, nur das Nötigste aus Deinem lieben Brief.
Ein herber Schnuppen macht, daß ich ihn erst jetzt beantworte. 1. Zu den
beyden Liedern schick ich Dir noch ein Wiegenlied*) das du vielleicht auch
mit gebrauchen kannst. 2) An Vosz habe ich wegen Deiner Verse schon ge¬
schrieben; aber der Weg zu ihm ist weit und er antwortet etwas langsam.
Da sein Almanach jetzt schon gedrukt ist, so darfst du ohne Sorge seyn. Er
gibt die Gedichte gewiß keinem Fremden. 3. Für Dein Physiognomisches
Lied dank ich Dir von Hertzen Es gefällt mir sehr. Die Anrede an die
Natur ist so warm und wirkt ins Herz; besonders schön deucht mir: daß
jeder Blik zum Himmel auf und jeder in die Welt :c. Die Liebe hab ich
gar gern dabey. Man sollte sie zur Göttin jeder und besonders dieser Kunst
machen. Nochmals hab Dank für Dein braves warmes Lied! 4. Lentz
Schatten war mir sehr willkommen. Ich hatt ihn schon bey Klingern ge¬
sehen. Es ist ein gar herrliches Gesicht, voll edeln Herzens. Seine Ueber¬
setzung von Officin hab ich nicht gesehen, denn Iris passirt hier nicht.
S. Von meiner größern Arbeit mündlich! 6, Leisewitz hat in Göttingen
studirt und ist unser Freund. Im Almanach ist von ihm die Pfändung und
der Besuch um Mitternacht. Sein Trauerspiel hab ich größtentheils gesehen
Es hat viel vorzügliches. Oft ists zu studirt, zu Lessingisch. In der Ge¬
schichte ist Leisewitz stark. Vielleicht wird er der erste deutsche Geschichts¬
schreiber. Er denkt sehr brav und ich lieb ihn sehr. 7. Claudius schreibt




') v, Stolberg.
") Am Ende des Briefs mitgetheilt; weggeblieben weil in Millers Gedichten S. 367. Es
hat im Mön. folgende Varianten: Heisser als dieß Mutterherz — Kommen niederwärts — Weil
die Engel wachen — Morgen wirst Du mir gewiß, froh entgegen lachen.
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[0462] Griese aus der Sturm- und Drangperiode. II. 6. I. M. Mill er an Kayser. Ulm den 16 Oct. 1775. Glück zu liebster Kaiser! Wenn mir kein Strich durch die Rechnung gemacht wird, so reif ich von heut über 14 Tage von hier ab und umarme dich in zween Tagen drauf. Denk einmal! Was das herrlich seyn wird! Heut schrieben mir die Grafen*) von Bern aus: In 4 Wochen würden sie hier seyn. Ich sollte sie wo möglich zwischen 14 Tagen und drey Wochen in Zürich abholen und das thu ich auch, wenn, nichts sehr wichtiges es mir unmöglich macht. Ich magh nicht versuchen auszudrücken, was wir dann zusammen empfinden werden! Jetzt beantwort ich, in der Hofnung, Dich bald selbst zu sprechen, nur das Nötigste aus Deinem lieben Brief. Ein herber Schnuppen macht, daß ich ihn erst jetzt beantworte. 1. Zu den beyden Liedern schick ich Dir noch ein Wiegenlied*) das du vielleicht auch mit gebrauchen kannst. 2) An Vosz habe ich wegen Deiner Verse schon ge¬ schrieben; aber der Weg zu ihm ist weit und er antwortet etwas langsam. Da sein Almanach jetzt schon gedrukt ist, so darfst du ohne Sorge seyn. Er gibt die Gedichte gewiß keinem Fremden. 3. Für Dein Physiognomisches Lied dank ich Dir von Hertzen Es gefällt mir sehr. Die Anrede an die Natur ist so warm und wirkt ins Herz; besonders schön deucht mir: daß jeder Blik zum Himmel auf und jeder in die Welt :c. Die Liebe hab ich gar gern dabey. Man sollte sie zur Göttin jeder und besonders dieser Kunst machen. Nochmals hab Dank für Dein braves warmes Lied! 4. Lentz Schatten war mir sehr willkommen. Ich hatt ihn schon bey Klingern ge¬ sehen. Es ist ein gar herrliches Gesicht, voll edeln Herzens. Seine Ueber¬ setzung von Officin hab ich nicht gesehen, denn Iris passirt hier nicht. S. Von meiner größern Arbeit mündlich! 6, Leisewitz hat in Göttingen studirt und ist unser Freund. Im Almanach ist von ihm die Pfändung und der Besuch um Mitternacht. Sein Trauerspiel hab ich größtentheils gesehen Es hat viel vorzügliches. Oft ists zu studirt, zu Lessingisch. In der Ge¬ schichte ist Leisewitz stark. Vielleicht wird er der erste deutsche Geschichts¬ schreiber. Er denkt sehr brav und ich lieb ihn sehr. 7. Claudius schreibt ') v, Stolberg. ") Am Ende des Briefs mitgetheilt; weggeblieben weil in Millers Gedichten S. 367. Es hat im Mön. folgende Varianten: Heisser als dieß Mutterherz — Kommen niederwärts — Weil die Engel wachen — Morgen wirst Du mir gewiß, froh entgegen lachen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/462>, abgerufen am 22.12.2024.