Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.aber läßt er Macht vor Recht ergehen, die letzten Werke sind nicht ganz frei Endlich muß noch eines äußeren Umstandes gedacht werden, der die aber läßt er Macht vor Recht ergehen, die letzten Werke sind nicht ganz frei Endlich muß noch eines äußeren Umstandes gedacht werden, der die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125161"/> <p xml:id="ID_1356" prev="#ID_1355"> aber läßt er Macht vor Recht ergehen, die letzten Werke sind nicht ganz frei<lb/> von dem anstemmenden Gegendrucke seines gequälten Inneren wider sein<lb/> furchtbares Geschick; etwas wie Willkür tritt uns befremdend entgegen<lb/> großen, aber doch endlichen Grundformen der Kunst hat er ausgedehnt, bis<lb/> ihre Bänder am Ende zerreißen oder doch schlaff werden. Weil er dabei aber<lb/> immer er selber bleibt, immer tief und großartig, ja in lichten Zeiten selbst<lb/> noch weich und von edler Schönheit, so ist dies grandiose Beispiel hinreißen¬<lb/> der Verirrung den Nachfolgern, die immer von den letzten Gipfeln aus<lb/> emporzustreben versuchen, verhängnißvoll geworden. Gerade hierin müßte<lb/> man ihn, wie so oft in anderem Sinne geschehen, mit Michelangelo verglei¬<lb/> chen. Die selbständigsten Naturen, die stets am meisten zur Nachfolge ver¬<lb/> leiten, sind leider für die schwächeren Geschlechter am wenigsten zu Vorbil¬<lb/> dern geeignet. Und auch in anderer Beziehung hat Beethoven's Vorgang<lb/> die Schüler beirrt. Da er für den ganzen Drang seines gedankenvollen und<lb/> oft poetischen Geistes den einzigen Ausweg in die Welt der Töne offen sah,<lb/> gerieth er selbst in den Wahn, mit seinen Compositionen eine wirklich dich-<lb/> terische Arbeit zu vollziehen; während er die erhabensten musikalischen Ideen<lb/> gestaltete, glaubte er damit Empfindungen, ja Gedanken im eigentlichen<lb/> Sinne den Tönen vernehmlich einzuhauchen. Wie Michelangelo die Grenzen<lb/> der Plastik und der Malerei, flössen ihm die der Musik und Poesie zusam¬<lb/> men. Er selber blieb dabei freilich mit verschwindenden Ausnahmen doch<lb/> stets musikalisch, aber unter den Epigonen entstand eine heillose Poetistrung<lb/> der Tonkunst in Theorie und Praxis.</p><lb/> <p xml:id="ID_1357"> Endlich muß noch eines äußeren Umstandes gedacht werden, der die<lb/> Kunst bald nach ihm einem raschen Verfalle zuführte. Die Wunder seiner<lb/> Modulation wie seiner ganzen Orchesterbehandlung waren nur möglich durch<lb/> die neue, vom Clavier ausgehende Herrschaft der gleichschwebenden Temperatur.<lb/> Helmholtz, dem wir die feinsinnige physikalische Neubegründung der Musiklehre<lb/> verdanken, hat,.in strengen, aber unanfechtbaren Worten die Abwege dar-<lb/> gethan, die darin für die Tonkunst seit.Beethoven lagen. Trotz alledem, so<lb/> gewiß selbst in den Vocalen Partien Fidelio's die Gesetze sinnlichen Wohllauts,<lb/> an die auch die höchsten Gebieter in der Kunst, sich binden sollten, bis¬<lb/> weilen von der Ueberwucht des sittlichen und geistigen Inhalts, wenn nicht<lb/> gebrochen, doch gebogen werden, wer sollte heut nicht danken, daß der große<lb/> Jnstrumentalmeister sich selber hier einmal Gewalt angethan und uns in der<lb/> ergreifendsten Weise gelehrt hat „zu glauben an Lieb' und Treue" ? Deutsch,<lb/> wie er vor anderen ist durch die ernste Schwere seiner gedankenreichen Kunst,<lb/> deutsch ist er vornehmlich auch durch die sittliche Hoheit Fidelio's. und als<lb/> Deutschen feiert ihn heut die Nation, die sich selber in Lieb' und Treue zu.<lb/><note type="byline"> a/D.</note> sammengefunden.<lb/></p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0455]
aber läßt er Macht vor Recht ergehen, die letzten Werke sind nicht ganz frei
von dem anstemmenden Gegendrucke seines gequälten Inneren wider sein
furchtbares Geschick; etwas wie Willkür tritt uns befremdend entgegen
großen, aber doch endlichen Grundformen der Kunst hat er ausgedehnt, bis
ihre Bänder am Ende zerreißen oder doch schlaff werden. Weil er dabei aber
immer er selber bleibt, immer tief und großartig, ja in lichten Zeiten selbst
noch weich und von edler Schönheit, so ist dies grandiose Beispiel hinreißen¬
der Verirrung den Nachfolgern, die immer von den letzten Gipfeln aus
emporzustreben versuchen, verhängnißvoll geworden. Gerade hierin müßte
man ihn, wie so oft in anderem Sinne geschehen, mit Michelangelo verglei¬
chen. Die selbständigsten Naturen, die stets am meisten zur Nachfolge ver¬
leiten, sind leider für die schwächeren Geschlechter am wenigsten zu Vorbil¬
dern geeignet. Und auch in anderer Beziehung hat Beethoven's Vorgang
die Schüler beirrt. Da er für den ganzen Drang seines gedankenvollen und
oft poetischen Geistes den einzigen Ausweg in die Welt der Töne offen sah,
gerieth er selbst in den Wahn, mit seinen Compositionen eine wirklich dich-
terische Arbeit zu vollziehen; während er die erhabensten musikalischen Ideen
gestaltete, glaubte er damit Empfindungen, ja Gedanken im eigentlichen
Sinne den Tönen vernehmlich einzuhauchen. Wie Michelangelo die Grenzen
der Plastik und der Malerei, flössen ihm die der Musik und Poesie zusam¬
men. Er selber blieb dabei freilich mit verschwindenden Ausnahmen doch
stets musikalisch, aber unter den Epigonen entstand eine heillose Poetistrung
der Tonkunst in Theorie und Praxis.
Endlich muß noch eines äußeren Umstandes gedacht werden, der die
Kunst bald nach ihm einem raschen Verfalle zuführte. Die Wunder seiner
Modulation wie seiner ganzen Orchesterbehandlung waren nur möglich durch
die neue, vom Clavier ausgehende Herrschaft der gleichschwebenden Temperatur.
Helmholtz, dem wir die feinsinnige physikalische Neubegründung der Musiklehre
verdanken, hat,.in strengen, aber unanfechtbaren Worten die Abwege dar-
gethan, die darin für die Tonkunst seit.Beethoven lagen. Trotz alledem, so
gewiß selbst in den Vocalen Partien Fidelio's die Gesetze sinnlichen Wohllauts,
an die auch die höchsten Gebieter in der Kunst, sich binden sollten, bis¬
weilen von der Ueberwucht des sittlichen und geistigen Inhalts, wenn nicht
gebrochen, doch gebogen werden, wer sollte heut nicht danken, daß der große
Jnstrumentalmeister sich selber hier einmal Gewalt angethan und uns in der
ergreifendsten Weise gelehrt hat „zu glauben an Lieb' und Treue" ? Deutsch,
wie er vor anderen ist durch die ernste Schwere seiner gedankenreichen Kunst,
deutsch ist er vornehmlich auch durch die sittliche Hoheit Fidelio's. und als
Deutschen feiert ihn heut die Nation, die sich selber in Lieb' und Treue zu.
a/D. sammengefunden.
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