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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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ten gethan, als sie das lateinische Idiom mit der heimischen Rede vertauschten,
sieht er darin, daß nun in dieser die deutsche Wissenschaft, wie längst die französi¬
sche und englische, auch des Wortes mächtig werde und statt in einer barbarischen und
geschraubten Sprache sich zu gefallen, jedem Denkenden verständlich zu reden ver¬
möge (S. 355). Seine Darstellung ist in der That ein Muster von sauberer Deut¬
lichkeit. Der Inhalt zeigt freilich wieder tutti lrutti in bunter Mischung i Lamennais,
Jacob Böhme, Spinoza, Communismus und Socialismus, die Nachtseiten von
London, deutsches Studentenleben. Aber keine unreife Studienfrucht ist darunter
und alle lassen ihren gemeinsamen Ursprung durch gleichmüthige, reine Auffassung
des Gegenstandes wie durch undogmatische, aber religiös erwärmte Färbung des
humanen Urtheils erkennen. Die drei ersten Aufsätze geben ein Bild ihrer Helden
in Leben und Lehre. Man kann nicht sagen, daß die Zeichnung Böhme's oder
Spinoza's neue Züge enthalte, aber sie enthält nur richtige und das ist auch etwas.
Jacob Böhme, für den die romantische Epoche wenigstens scheinbar so viel Theil¬
nahme zeigte, ist jetzt wieder aus der Mode gekommen, desto lebhafter ist seit der
Entdeckung des trg.etg.of as veo se Komme die Discussion über Spinoza gewor>
den, namentlich was die Genesis seiner Gedanken anlangt. Ein Zwist hat sich er¬
hoben darüber, ob Giordano Bruno oder vielmehr die jüdischen Denker des Mittel-
nlters beträchtlich auf den großen Philosophen eingewirkt haben -- den Einfluß des
Cartesius schlägt man daneben jetzt mit Recht als einen nur äußerlichen gering an.
Wir begnügen uns hier beiläufig auf die neueste Schrift des Dr. M. Jost hin-
zuweisen, darin der Verfasser mit rabbinischen Scharfsinn und gelehrter Kenntniß
der jüdischen Philosophie sich bestrebt, in Spinoza's theologisch-politischem Tractat
"zu geben dem Judenthum, was des Judenthums ist." Je weniger nun aber dieser
kleine Nassen- und Religionskrieg um die Leiche des Patroklos das große Publicum
interessiren kann, um so wichtiger ist es für dies, das großartige, in seiner Einheit
unerreichte und darin eben unanfechtbar originale Weltbild des viel genannten und
verkannten Denkers klar und überschaulich zu Gesicht zu bekommen, ein Weltbild,
zu dem sich doch manches Stück Goethe'scher Anschauung, wie insbesondere die Ethik
der Wahlverwandtschaften verhält wie ein farbenprächtiges Wandgemälde zu seinem
Carton. Das hat nun Huber in seinem Aufsatze ansprechend geleistet und dabei
auch nicht versäumt, den Leser auf die Lücken und Fehler des Systems hinzuwei¬
sen. -- An der Gestalt Lamennais' nimmt Huber ein besonderes Interesse; aus
diesem unsteten, in leidenschaftlichen Gegensätzen sich aufzehrenden Leben zieht er die
Lehre, daß es in allewege unmöglich sei, das Papstthum und die Freiheit zu ver¬
söhnen. So wahr das ist, hat er uns doch nicht überzeugt, daß zu den jähen
Sprüngen dieses echt französischen Geistes von einem Extrem ins andere nicht, wie
Gervinus urtheilt, verletzte Eitelkeit den Hauptantrieb gegeben habe.

Am werthvollsten sind ohne Zweifel die beiden Aufsätze Huber's zur socialen
Frage. Der erste, "Communismus und Socialismus", gibt nicht blos eine Ge"


ten gethan, als sie das lateinische Idiom mit der heimischen Rede vertauschten,
sieht er darin, daß nun in dieser die deutsche Wissenschaft, wie längst die französi¬
sche und englische, auch des Wortes mächtig werde und statt in einer barbarischen und
geschraubten Sprache sich zu gefallen, jedem Denkenden verständlich zu reden ver¬
möge (S. 355). Seine Darstellung ist in der That ein Muster von sauberer Deut¬
lichkeit. Der Inhalt zeigt freilich wieder tutti lrutti in bunter Mischung i Lamennais,
Jacob Böhme, Spinoza, Communismus und Socialismus, die Nachtseiten von
London, deutsches Studentenleben. Aber keine unreife Studienfrucht ist darunter
und alle lassen ihren gemeinsamen Ursprung durch gleichmüthige, reine Auffassung
des Gegenstandes wie durch undogmatische, aber religiös erwärmte Färbung des
humanen Urtheils erkennen. Die drei ersten Aufsätze geben ein Bild ihrer Helden
in Leben und Lehre. Man kann nicht sagen, daß die Zeichnung Böhme's oder
Spinoza's neue Züge enthalte, aber sie enthält nur richtige und das ist auch etwas.
Jacob Böhme, für den die romantische Epoche wenigstens scheinbar so viel Theil¬
nahme zeigte, ist jetzt wieder aus der Mode gekommen, desto lebhafter ist seit der
Entdeckung des trg.etg.of as veo se Komme die Discussion über Spinoza gewor>
den, namentlich was die Genesis seiner Gedanken anlangt. Ein Zwist hat sich er¬
hoben darüber, ob Giordano Bruno oder vielmehr die jüdischen Denker des Mittel-
nlters beträchtlich auf den großen Philosophen eingewirkt haben — den Einfluß des
Cartesius schlägt man daneben jetzt mit Recht als einen nur äußerlichen gering an.
Wir begnügen uns hier beiläufig auf die neueste Schrift des Dr. M. Jost hin-
zuweisen, darin der Verfasser mit rabbinischen Scharfsinn und gelehrter Kenntniß
der jüdischen Philosophie sich bestrebt, in Spinoza's theologisch-politischem Tractat
„zu geben dem Judenthum, was des Judenthums ist." Je weniger nun aber dieser
kleine Nassen- und Religionskrieg um die Leiche des Patroklos das große Publicum
interessiren kann, um so wichtiger ist es für dies, das großartige, in seiner Einheit
unerreichte und darin eben unanfechtbar originale Weltbild des viel genannten und
verkannten Denkers klar und überschaulich zu Gesicht zu bekommen, ein Weltbild,
zu dem sich doch manches Stück Goethe'scher Anschauung, wie insbesondere die Ethik
der Wahlverwandtschaften verhält wie ein farbenprächtiges Wandgemälde zu seinem
Carton. Das hat nun Huber in seinem Aufsatze ansprechend geleistet und dabei
auch nicht versäumt, den Leser auf die Lücken und Fehler des Systems hinzuwei¬
sen. — An der Gestalt Lamennais' nimmt Huber ein besonderes Interesse; aus
diesem unsteten, in leidenschaftlichen Gegensätzen sich aufzehrenden Leben zieht er die
Lehre, daß es in allewege unmöglich sei, das Papstthum und die Freiheit zu ver¬
söhnen. So wahr das ist, hat er uns doch nicht überzeugt, daß zu den jähen
Sprüngen dieses echt französischen Geistes von einem Extrem ins andere nicht, wie
Gervinus urtheilt, verletzte Eitelkeit den Hauptantrieb gegeben habe.

Am werthvollsten sind ohne Zweifel die beiden Aufsätze Huber's zur socialen
Frage. Der erste, „Communismus und Socialismus", gibt nicht blos eine Ge«


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/445>, abgerufen am 22.12.2024.