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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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konnt hätten; Schäfer weist ausführlich nach, daß ein Theil des Heeres die
geschlagenen Russen in guter Ordnung aufnahm und die Armee dann in
ziemlich geschlossener Haltung den Rückmarsch antrat.

Weniger einverstanden sind wir mit der Beschreibung der Schlacht bei
Hochkirch, welche ebenso wie die von Kollin eine wenigstens einigermaßen
genaue Darstellung verdient. Hier dagegen finden wir manches Unverständ¬
liche in der Beschreibung der verschiedenen kantischen Operationen. So wird
der Name Netzow's zwar mehrmals genannt, aber wie die ganze Episode,
welche dem Ueberfall vorhergeht, wird auch die Bedeutung der Aufgabe, die
Retzow zufiel, die Besetzung der Stromberge, wie es scheint, übersehen. Die
Niederlage bei Hochkirch war zwar wegen der Saumseligkeit Daun's nicht
gerade von verhängnißvollen Folgen für Preußen, aber doch immerhin sehr
niederschlagend; was hilft es, die Eigenwilligkeit des Königs zu bemänteln
oder durch oberflächliche Wiedergabe des Thatbestandes uns im Dunkel zu
lassen. Wenn wir gern eingestehen, daß nur Friedrich's Charakterstärke und
geistige Festigkeit in dieser furchtbaren Zeit den preußischen Staat erhalten
und ihm seine europäische Bedeutung gesichert hat, was sollen wir verschwei¬
gen, daß die jenen Tugenden verwandten Fehler in entscheidenden Momen¬
ten den König und den Staat an den Abgrund des Verderbens gebracht
haben?

Bekannt genug sind die Vorstellungen, welche die bedeutendsten Offiziere
dem Könige machten. Seydlitz und Ziethen bekamen am Abend vor dem
Ueberfall Meldungen, die ihn als sicher voraussehen ließen; der König
schwankte und ließ nachher doch alle Vorsichtsmaßregeln abbestellen; der Ge¬
neralquartiermeister v. d. Marwitz hatte das Lager nicht abstecken wollen und
wurde dafür mit Arrest bestraft -- alles das sollte doch den Historiker, selbst
wenn ihn die militärischen Dinge wenig interessiren, zu einem freimüthigen
Urtheil herausfordern; Schäfer ist denn hier doch etwas zu objectiv. Warum
er übrigens nach dem amtlichen (!) Bericht den östreichischen Verlust auf
8314 M. angiebt, während ihn v. Archenholz auf 8000 veranschlagt und er nach
Janko's Berechnungen sich auf 7933 M. stellte, ist nicht ersichtlich. In der
Angabe der militairischen Stärkeverhältnisse ist überhaupt nicht immer klar,
welchen Quellen Schäfer folgte, so schwanken die Angaben über die Stärke
des russischen Corps, welches Kolberg umlagerte, zwischen 4--12,000 M.
(Archenholz 10.000). Schäfer tax'ire sie auf 3--4000 M. -- wohl zu niedrig
-- anscheinend nach russischen Berichten.

Indessen sind im allgemeinen sowohl die schwedisch-russischen Unter-
nehmungen, als auch die des Prinzen Ferdinand von Braunschweig mit
dankenswerther Genauigkeit geschildert; über die Anordnung des Stoffes
läßt sich zuweilen streiten; so scheinen z. B. die der Schlacht bei Zorn-


konnt hätten; Schäfer weist ausführlich nach, daß ein Theil des Heeres die
geschlagenen Russen in guter Ordnung aufnahm und die Armee dann in
ziemlich geschlossener Haltung den Rückmarsch antrat.

Weniger einverstanden sind wir mit der Beschreibung der Schlacht bei
Hochkirch, welche ebenso wie die von Kollin eine wenigstens einigermaßen
genaue Darstellung verdient. Hier dagegen finden wir manches Unverständ¬
liche in der Beschreibung der verschiedenen kantischen Operationen. So wird
der Name Netzow's zwar mehrmals genannt, aber wie die ganze Episode,
welche dem Ueberfall vorhergeht, wird auch die Bedeutung der Aufgabe, die
Retzow zufiel, die Besetzung der Stromberge, wie es scheint, übersehen. Die
Niederlage bei Hochkirch war zwar wegen der Saumseligkeit Daun's nicht
gerade von verhängnißvollen Folgen für Preußen, aber doch immerhin sehr
niederschlagend; was hilft es, die Eigenwilligkeit des Königs zu bemänteln
oder durch oberflächliche Wiedergabe des Thatbestandes uns im Dunkel zu
lassen. Wenn wir gern eingestehen, daß nur Friedrich's Charakterstärke und
geistige Festigkeit in dieser furchtbaren Zeit den preußischen Staat erhalten
und ihm seine europäische Bedeutung gesichert hat, was sollen wir verschwei¬
gen, daß die jenen Tugenden verwandten Fehler in entscheidenden Momen¬
ten den König und den Staat an den Abgrund des Verderbens gebracht
haben?

Bekannt genug sind die Vorstellungen, welche die bedeutendsten Offiziere
dem Könige machten. Seydlitz und Ziethen bekamen am Abend vor dem
Ueberfall Meldungen, die ihn als sicher voraussehen ließen; der König
schwankte und ließ nachher doch alle Vorsichtsmaßregeln abbestellen; der Ge¬
neralquartiermeister v. d. Marwitz hatte das Lager nicht abstecken wollen und
wurde dafür mit Arrest bestraft — alles das sollte doch den Historiker, selbst
wenn ihn die militärischen Dinge wenig interessiren, zu einem freimüthigen
Urtheil herausfordern; Schäfer ist denn hier doch etwas zu objectiv. Warum
er übrigens nach dem amtlichen (!) Bericht den östreichischen Verlust auf
8314 M. angiebt, während ihn v. Archenholz auf 8000 veranschlagt und er nach
Janko's Berechnungen sich auf 7933 M. stellte, ist nicht ersichtlich. In der
Angabe der militairischen Stärkeverhältnisse ist überhaupt nicht immer klar,
welchen Quellen Schäfer folgte, so schwanken die Angaben über die Stärke
des russischen Corps, welches Kolberg umlagerte, zwischen 4—12,000 M.
(Archenholz 10.000). Schäfer tax'ire sie auf 3—4000 M. — wohl zu niedrig
— anscheinend nach russischen Berichten.

Indessen sind im allgemeinen sowohl die schwedisch-russischen Unter-
nehmungen, als auch die des Prinzen Ferdinand von Braunschweig mit
dankenswerther Genauigkeit geschildert; über die Anordnung des Stoffes
läßt sich zuweilen streiten; so scheinen z. B. die der Schlacht bei Zorn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/419>, abgerufen am 23.12.2024.