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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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außer ihr und außer dem Rest der Algier- und Marinetruppen noch 180,000 M.
an Depotbataillonen und Besatzungen hatte. Trotzdem muß die Feld¬
armee Frankreichs bei jedem Wehrsystem verhältnißmäßig schwächer sein, als
die unsere; so lange dieser Staat die Erbschaft Ludwig XIV., das gewaltige
Netzgeflecht von Festungen erhält und bewehrt. Dieses System macht die De¬
fensivkraft Frankreichs dagegen stärker als die jedes andern europäischen Gro߬
staats, es erschwert dem siegreichen Feinde die Bewältigung des Landes, aber es
legt auch dem Lande selbst sehr schwere Friedenslasten auf und im Kriege
wahrscheinlich nur eine Verlängerung des Leidens. Am 2. September wußte
man in unserer Heeresleitung, daß jetzt ein ganz neuer Kampf, der Festungs¬
krieg und der kleine Krieg beginne. Man erwartete vielleicht die Einnahme
von Metz und Paris in kürzerer Frist, aber man rechnete richtig, daß außerdem
noch ein Ueberziehen des ganzen Landes durch unsere Armeecorps nöthig sein
werde, und wahrscheinlich viele Cernirung und Belagerung fester Plätze. Die
Republikaner nehmen seitdem das Verdienst in Anspruch, daß sie das Volk zum
Kriege begeistert und überall neue Heere geschaffen. Ohne Zweifel haben sie
Tausende von Freiwilligen zum Heere und viele Hundert Bauern in die
Wälder gelockt. Aber man darf behaupten, daß jede energische legale Re¬
gierung bei den vorhandenen Wehrkräften dasselbe Resultat, und zwar in ge¬
ordneter Weise erreicht hätte. Denn die vorhandenen Linientruppen gaben
für große Neubildungen Rahmen und Anhalt, die Festungen sichernde'Stütz¬
punkte. Und die Frage ist nur, ob eine sichere und legale Regierung ein
solches Aufbieten der letzten Kraft und einen Krieg bis zum Aeußersten als
vernünftig und dem Interesse Frankreichs heilsam erachtet hätte. Es ist
aber lehrreich, daß überall, wo die Franzosen ernste Gefechte wagen, der
Kern ihrer Angriffstruppen doch die Linienbataillone älteren Bestandes sind,
obgleich die regulären Neuformationen in acht Wochen Zeit hatten, sich für
den Felddienst reglementsmäßig auszubilden. Daß die ganze Einrichtung
der irregulären Freischützen und Freiwilligenlegion ein politischer und socialer
Frevel ist, wurde früher einmal ausgeführt.

In der Heimath waren große Ereignisse der letzten Woche: die Eröff-
nung des Reichstages, die Bewilligung der neuen Anleihe von 100 Millio¬
nen und die Mittheilung der Verträge mit den deutschen Südstaaten. Wäh¬
rend die Abmachungen mit Baden, Hessen, Würtemberg zu der Annahme
berechtigten, daß die Verbindung derselben mit dem Nordbund ohne tiefein¬
greifende Umbildungen der bestehenden Verfassung bewirkt werden könne,
erregt der Vertrag mit Bayern Staunen und Befremden, nicht nur bei den
nationalen, vielleicht ebenso sehr bei den Conservativen. Erst durch ihn wird
deutlich, daß der neue deutsche Bund etwas wesentlich anderes werden soll,
als der norddeutsche Bund. Dem Bundesoberhaupt wird das Recht, Krieg
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außer ihr und außer dem Rest der Algier- und Marinetruppen noch 180,000 M.
an Depotbataillonen und Besatzungen hatte. Trotzdem muß die Feld¬
armee Frankreichs bei jedem Wehrsystem verhältnißmäßig schwächer sein, als
die unsere; so lange dieser Staat die Erbschaft Ludwig XIV., das gewaltige
Netzgeflecht von Festungen erhält und bewehrt. Dieses System macht die De¬
fensivkraft Frankreichs dagegen stärker als die jedes andern europäischen Gro߬
staats, es erschwert dem siegreichen Feinde die Bewältigung des Landes, aber es
legt auch dem Lande selbst sehr schwere Friedenslasten auf und im Kriege
wahrscheinlich nur eine Verlängerung des Leidens. Am 2. September wußte
man in unserer Heeresleitung, daß jetzt ein ganz neuer Kampf, der Festungs¬
krieg und der kleine Krieg beginne. Man erwartete vielleicht die Einnahme
von Metz und Paris in kürzerer Frist, aber man rechnete richtig, daß außerdem
noch ein Ueberziehen des ganzen Landes durch unsere Armeecorps nöthig sein
werde, und wahrscheinlich viele Cernirung und Belagerung fester Plätze. Die
Republikaner nehmen seitdem das Verdienst in Anspruch, daß sie das Volk zum
Kriege begeistert und überall neue Heere geschaffen. Ohne Zweifel haben sie
Tausende von Freiwilligen zum Heere und viele Hundert Bauern in die
Wälder gelockt. Aber man darf behaupten, daß jede energische legale Re¬
gierung bei den vorhandenen Wehrkräften dasselbe Resultat, und zwar in ge¬
ordneter Weise erreicht hätte. Denn die vorhandenen Linientruppen gaben
für große Neubildungen Rahmen und Anhalt, die Festungen sichernde'Stütz¬
punkte. Und die Frage ist nur, ob eine sichere und legale Regierung ein
solches Aufbieten der letzten Kraft und einen Krieg bis zum Aeußersten als
vernünftig und dem Interesse Frankreichs heilsam erachtet hätte. Es ist
aber lehrreich, daß überall, wo die Franzosen ernste Gefechte wagen, der
Kern ihrer Angriffstruppen doch die Linienbataillone älteren Bestandes sind,
obgleich die regulären Neuformationen in acht Wochen Zeit hatten, sich für
den Felddienst reglementsmäßig auszubilden. Daß die ganze Einrichtung
der irregulären Freischützen und Freiwilligenlegion ein politischer und socialer
Frevel ist, wurde früher einmal ausgeführt.

In der Heimath waren große Ereignisse der letzten Woche: die Eröff-
nung des Reichstages, die Bewilligung der neuen Anleihe von 100 Millio¬
nen und die Mittheilung der Verträge mit den deutschen Südstaaten. Wäh¬
rend die Abmachungen mit Baden, Hessen, Würtemberg zu der Annahme
berechtigten, daß die Verbindung derselben mit dem Nordbund ohne tiefein¬
greifende Umbildungen der bestehenden Verfassung bewirkt werden könne,
erregt der Vertrag mit Bayern Staunen und Befremden, nicht nur bei den
nationalen, vielleicht ebenso sehr bei den Conservativen. Erst durch ihn wird
deutlich, daß der neue deutsche Bund etwas wesentlich anderes werden soll,
als der norddeutsche Bund. Dem Bundesoberhaupt wird das Recht, Krieg
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/403>, abgerufen am 23.12.2024.