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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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sich communale Einrichtungen noch anlehnen ließen. Sie erscheinen auch im
Verhältniß zum Umfang des Landes zu groß für decentralistische Gestaltun¬
gen. Dieselben Einwände sind gegen die mit den Regierungskreisen nicht
ganz?übereinstimmenden ständischen Kreise zu erheben, denen die eine zeitge¬
mäße Fortbildung ermöglichende Lebensfähigkeit überall fehlt. Die amts-
hauptmannschaftlichen Bezirke (Landrathsämter) eignen sich trefflich größere
Verwaltungskreise zu bilden, so ungleich sie in geographischer und Volkswirth,
schaftlicher Beziehung sind. Ihre durchschnittliche Größe und Leistungsfähig¬
keit kommen dem Mittel preußischer Kreise gleich. Sie haben zur Zeit aber
nur administrative Bedeutung und so lange der Gesetzgeber ihnen keine com¬
munale beigelegt, ist es nicht möglich, organisatorische Combinationen mit ihnen
zu verknüpfen. Die Gerichtsamtsbezirke (Verwaltungsämter) endlich lassen
gemeinschaftliche Armenanstalten zu, wie die unlängst von andrer Seite ge¬
gebene Schilderung des Vereins der Amtslandchaft Meißen (I. S. 308)
zeigt. Die ihren Schöpfer ehrende Organisation wird inzwischen durch die
äußern Umstände und namentlich durch die rein landwirtschaftliche Zu¬
sammensetzung des wohlabgerundeten Bezirks wesentlich begünstigt und darf
eher als Beweis dafür gelten, was unter der bestehenden Aemterverfassung
geleistet werden kann, als was unter ihr geleistet wird. Es ist in Frage zu
ziehen, ob einer in so glücklicher Weise gebildeten und geleiteten Armenpflege,
genossenschaft nicht auch die Pflichten des Landarmenverbands zu übertragen
sind ; es steht außer Frage, daß sie dem Gesetzgeber nicht allgemein als Vor¬
bild und Typus zu dienen vermag.

Hiermit berühren wir eine Frage, die bei Bildung der sächsischen Land¬
armenverbände in Betracht zu ziehen und für den Augenblick vielleicht wich¬
tiger erscheint, die Frage, wie sich der Gesetzgeber den Schöpfungen des
Voluntarism gegenüber verhalten soll, welche die letzten Lustren auf dem Gebiet
des Armenwesens entstehen sahen und die zweifellos zu den erfreulichsten Er¬
scheinungen des innern Staatslebens dieser Periode gehören.

Die Bezirksarmenvereine, mit denen sich das Land rasch bedeckte, sind
durch das Zusammenwirken zweier Momente hervorgerufen worden. Es war
ein gebieterisches Bedürfniß, größere Verbände für Schaffung von Armen¬
anstalten hinzustellen, ein Bedürfniß, das innerhalb der bestehenden Verwal-
tungseinrichtungcn keine Befriedigung finden konnte. Obschon aber dieses
Bedürfniß gegeben, glaubte sich der Gesetzgeber nicht in der Lage, demselben
im regelmäßigen Wege staatlicher Anordnung zu genügen. Die Staatsregie¬
rung verzichtete auf die dankbarere Rolle selbst schöpferisch vorzugehen und
beschränkte sich auf die unscheinbarere, anzuregen, zu fördern, nachzuhelfen, sie
strebte mit Bewußtheit an die nöthige Neubildung sich so frei wie möglich
aus sich selbst entwickeln zu lassen. Die Leistungen der Selbsthilfe, die auf


sich communale Einrichtungen noch anlehnen ließen. Sie erscheinen auch im
Verhältniß zum Umfang des Landes zu groß für decentralistische Gestaltun¬
gen. Dieselben Einwände sind gegen die mit den Regierungskreisen nicht
ganz?übereinstimmenden ständischen Kreise zu erheben, denen die eine zeitge¬
mäße Fortbildung ermöglichende Lebensfähigkeit überall fehlt. Die amts-
hauptmannschaftlichen Bezirke (Landrathsämter) eignen sich trefflich größere
Verwaltungskreise zu bilden, so ungleich sie in geographischer und Volkswirth,
schaftlicher Beziehung sind. Ihre durchschnittliche Größe und Leistungsfähig¬
keit kommen dem Mittel preußischer Kreise gleich. Sie haben zur Zeit aber
nur administrative Bedeutung und so lange der Gesetzgeber ihnen keine com¬
munale beigelegt, ist es nicht möglich, organisatorische Combinationen mit ihnen
zu verknüpfen. Die Gerichtsamtsbezirke (Verwaltungsämter) endlich lassen
gemeinschaftliche Armenanstalten zu, wie die unlängst von andrer Seite ge¬
gebene Schilderung des Vereins der Amtslandchaft Meißen (I. S. 308)
zeigt. Die ihren Schöpfer ehrende Organisation wird inzwischen durch die
äußern Umstände und namentlich durch die rein landwirtschaftliche Zu¬
sammensetzung des wohlabgerundeten Bezirks wesentlich begünstigt und darf
eher als Beweis dafür gelten, was unter der bestehenden Aemterverfassung
geleistet werden kann, als was unter ihr geleistet wird. Es ist in Frage zu
ziehen, ob einer in so glücklicher Weise gebildeten und geleiteten Armenpflege,
genossenschaft nicht auch die Pflichten des Landarmenverbands zu übertragen
sind ; es steht außer Frage, daß sie dem Gesetzgeber nicht allgemein als Vor¬
bild und Typus zu dienen vermag.

Hiermit berühren wir eine Frage, die bei Bildung der sächsischen Land¬
armenverbände in Betracht zu ziehen und für den Augenblick vielleicht wich¬
tiger erscheint, die Frage, wie sich der Gesetzgeber den Schöpfungen des
Voluntarism gegenüber verhalten soll, welche die letzten Lustren auf dem Gebiet
des Armenwesens entstehen sahen und die zweifellos zu den erfreulichsten Er¬
scheinungen des innern Staatslebens dieser Periode gehören.

Die Bezirksarmenvereine, mit denen sich das Land rasch bedeckte, sind
durch das Zusammenwirken zweier Momente hervorgerufen worden. Es war
ein gebieterisches Bedürfniß, größere Verbände für Schaffung von Armen¬
anstalten hinzustellen, ein Bedürfniß, das innerhalb der bestehenden Verwal-
tungseinrichtungcn keine Befriedigung finden konnte. Obschon aber dieses
Bedürfniß gegeben, glaubte sich der Gesetzgeber nicht in der Lage, demselben
im regelmäßigen Wege staatlicher Anordnung zu genügen. Die Staatsregie¬
rung verzichtete auf die dankbarere Rolle selbst schöpferisch vorzugehen und
beschränkte sich auf die unscheinbarere, anzuregen, zu fördern, nachzuhelfen, sie
strebte mit Bewußtheit an die nöthige Neubildung sich so frei wie möglich
aus sich selbst entwickeln zu lassen. Die Leistungen der Selbsthilfe, die auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/396>, abgerufen am 22.12.2024.