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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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statt ist der Hauch einer tiefen seelischen Anmuth ausgegossen, deren Geheim¬
nisse der Genius der Plastik nur in seltenen glücklichen Fällen so vollkommen
zu erschließen vermag.

Thorwaldsen's rein künstlerisches Verdienst ist unbestritten des höchsten
und edelsten Preises würdig, die Bildnerkunst hat durch ihn aufs Neue
plastisch sehen und fühlen gelernt; aber allerdings blieb ihm im Ganzen ver¬
sagt, sie zugleich der Eigenthümlichkeit des modernen Empfindens in lebendige
und unmittelbare Nähe zu bringen. Wenn man mit Recht eine Verwandt¬
schaft erblickt zwischen seiner Kunst und dem Classicismus unserer neueren
Literatur, so kann man doch nicht rühmen, daß sie in ähnlicher oder so voll¬
kommener Weise, wie etwa Goethe's Iphigenie, einen Empfindungsgehalt
ausspreche, der uns in der classischen Form mit der Wärme unmittelbaren
Lebens berührt. Fanatiker der modernen Empfindung können sagen, daß
sich Thorwaldsens Kunst, je plastischer sie sei, je mehr sie den strengen Ge¬
setzen der classischen Sculptur entspreche, von dem Gefühl des modernen Le¬
bens um so weiter entferne; die Sculptur sei die eigentliche Kunst des Alter¬
thums, wolle man die volle Reinheit des plastischen Stils erreichen, so müsse
man allerdings auf das Vorbild der Antike bedingungslos zurückgehn, ebenso
nothwendig aber auf eine unmittelbare und lebendige Wirkung in unseren
Tagen verzichten. Daß es eine unübersteigliche Schranke gebe zwischen der
antiken und modernen Welt, daß die großen Jahrhunderte der Geschichte,
die zwischen dieser und jener liegen, Wandlungen des menschlichen Geistes
hervorgerufen haben, die nicht wieder rückgängig zu machen sind, daß in den
Kunstwerken der Antike eine Empfindung herrscht, die der moderne Mensch
nicht mit völliger und unbedingter Freiheit in sich zu wiederholen vermag,
wer will es bezweifeln? Selbst die vollkommensten.Werke Thorwaldsen's
können an dieser Thatsache nichts ändern.

Wenn wir zum Studium und Genuß der künstlerischen Formvollendung
der Antike mit ewig neuer Bewunderung zurückkehren und in keiner ande¬
ren Kunst vollkommenere Muster eines restlosen Füreinanderseins von Seele
und Form zu finden vermögen, so gibt es doch einen Gesichtspunkt, unter
dem sich dies künstlerische Interesse noch ganz anders beleben und erhöhen
mußte; lebenswarmer mußte die Begeisterung sein, die diese Kunst damals
erweckte, wo die Ideale, die sie darstellt, noch von dem Glauben eines gan¬
zen Volkes getragen wurden, wo die mythologische Stoffwelt, aus der sie
ihren Inhalt entnahm, auch dann noch, als sie nicht mehr Gegenstand eines
allgemeinen und strengen Glaubens war, mit dem ganzen Gefühls- und
Geistesleben des Volkes doch auf das engste verflochten blieb.

Die Plastik war dieser mythologischen Anschauung die adäquateste Kunst,
sie hat mit ihr einen tiefen und denkwürdigen Zusammenhang; die Be-


statt ist der Hauch einer tiefen seelischen Anmuth ausgegossen, deren Geheim¬
nisse der Genius der Plastik nur in seltenen glücklichen Fällen so vollkommen
zu erschließen vermag.

Thorwaldsen's rein künstlerisches Verdienst ist unbestritten des höchsten
und edelsten Preises würdig, die Bildnerkunst hat durch ihn aufs Neue
plastisch sehen und fühlen gelernt; aber allerdings blieb ihm im Ganzen ver¬
sagt, sie zugleich der Eigenthümlichkeit des modernen Empfindens in lebendige
und unmittelbare Nähe zu bringen. Wenn man mit Recht eine Verwandt¬
schaft erblickt zwischen seiner Kunst und dem Classicismus unserer neueren
Literatur, so kann man doch nicht rühmen, daß sie in ähnlicher oder so voll¬
kommener Weise, wie etwa Goethe's Iphigenie, einen Empfindungsgehalt
ausspreche, der uns in der classischen Form mit der Wärme unmittelbaren
Lebens berührt. Fanatiker der modernen Empfindung können sagen, daß
sich Thorwaldsens Kunst, je plastischer sie sei, je mehr sie den strengen Ge¬
setzen der classischen Sculptur entspreche, von dem Gefühl des modernen Le¬
bens um so weiter entferne; die Sculptur sei die eigentliche Kunst des Alter¬
thums, wolle man die volle Reinheit des plastischen Stils erreichen, so müsse
man allerdings auf das Vorbild der Antike bedingungslos zurückgehn, ebenso
nothwendig aber auf eine unmittelbare und lebendige Wirkung in unseren
Tagen verzichten. Daß es eine unübersteigliche Schranke gebe zwischen der
antiken und modernen Welt, daß die großen Jahrhunderte der Geschichte,
die zwischen dieser und jener liegen, Wandlungen des menschlichen Geistes
hervorgerufen haben, die nicht wieder rückgängig zu machen sind, daß in den
Kunstwerken der Antike eine Empfindung herrscht, die der moderne Mensch
nicht mit völliger und unbedingter Freiheit in sich zu wiederholen vermag,
wer will es bezweifeln? Selbst die vollkommensten.Werke Thorwaldsen's
können an dieser Thatsache nichts ändern.

Wenn wir zum Studium und Genuß der künstlerischen Formvollendung
der Antike mit ewig neuer Bewunderung zurückkehren und in keiner ande¬
ren Kunst vollkommenere Muster eines restlosen Füreinanderseins von Seele
und Form zu finden vermögen, so gibt es doch einen Gesichtspunkt, unter
dem sich dies künstlerische Interesse noch ganz anders beleben und erhöhen
mußte; lebenswarmer mußte die Begeisterung sein, die diese Kunst damals
erweckte, wo die Ideale, die sie darstellt, noch von dem Glauben eines gan¬
zen Volkes getragen wurden, wo die mythologische Stoffwelt, aus der sie
ihren Inhalt entnahm, auch dann noch, als sie nicht mehr Gegenstand eines
allgemeinen und strengen Glaubens war, mit dem ganzen Gefühls- und
Geistesleben des Volkes doch auf das engste verflochten blieb.

Die Plastik war dieser mythologischen Anschauung die adäquateste Kunst,
sie hat mit ihr einen tiefen und denkwürdigen Zusammenhang; die Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/375>, abgerufen am 23.12.2024.