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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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manieristische Willkür zu verwandeln. Wenn aber die bedeutenden Sculptur-
werke der Renaissance beweisen, daß man bei freierer und kühnerer Behand¬
lung der antiken Formen Schönes und Großes schaffen und den allgemeinen
Stilgesetzen genügen könne, so zeigte Thorwaldsen, daß man diese Formen
mit Strenge zu reproduciren vermöge, ohne in kalte Nachahmung zu versallen.
Hierin beruht das Eigenthümlichste seiner Erscheinung. Die Naivetät, mit der er
sich in die Anschauungs- und Gefühlsweise der Antike hineinlebte, hat etwas
Wunderbares und ist wohl einzig zu nennen in der Geschichte des modernen
Geistes. Die mythologische Welt der griechischen Phantasie war seine eigent¬
liche Heimath, und es ist natürlich, daß er von hier in das Gebiet der christ¬
lichen Vorstellungen nicht mit völliger innerer Freiheit überzugehen vermochte.
Seine christlichen Sculpturen, so groß ihre plastischen Vorzüge sind, lassen
eine tiefere Gemüthswärme, den Ausdruck eines von dem Gegenstand lebhaft
ergriffenen Gefühls in der That vermissen.

Den Höhepunkt plastischer Vollendung, den der Mereur und Hirtenknabe
bezeichnen, hat Thorwaldsen in späteren Werken kaum wieder vollständig
erreicht. Bei der fast unübersehbaren Menge der ihm übertragenen Arbeiten
beschränkte er sich häufig auf den Entwurf eines nicht streng detaillirten Mo¬
dells, dessen Ausführung er einem seiner zahlreichen Schüler überließ, ohne sie
immer genau überwachen zu können; die Massenhaftigkeit der Production,
bei der der Reichthum plastischer Erfindungsgabe immer bewunderungswürdig
bleibt, führte in manchen Werken eine Monotonie des Ausdrucks und Flüch¬
tigkeit der Formenbehandlung mit sich, die dem Betrachter das Gefühl einer
gewissen Leere zurücklassen. Am schönsten bewährte sich Thorwaldsen's Mei¬
sterschaft während dieser Zeit in der Reliefdarstellung, deren eigenthümliche,
seit den Tagen der griechischen Plastik am meisten in Vergessenheit gerathene
Gesetze von ihm geradezu aufs Neue entdeckt wurden. In dieser Gattung
der Bildnerkunst,' welche vor Allem die reine Schönheit der Linie und, jeden
Realismus der Raum- und Formenbehandlung ausschließend, bis zu gewissem
Grade eine nur schematisch andeutende Darstellungsweise fordert, bewegt sich
Thorwaldsen mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit und vollendeter Sicher¬
heit des künstlerischen Geschmackes. Vom Alexanderzuge bis zu den kleinen
anakreontischen Reliefs, die mit stilvoller Schönheit den Reiz anmuthiger
Gelegenheitsgedichte verbinden, sind die Darstellungen dieser Art Muster
ihrer Gattung. Die Porträtdarstellung lag nur wenig in der Richtung seiner
Kunst. Unter seinen Denkmalstatuen, die das Charakteristische fast immer
verallgemeinern, ohne es ideell zu vertiefen, wüßten wir nur eine einzige,
die wenig bekannte Porträtsstatue der Gräfin Baröatynska, die wirklich mit
dem unergründlichen Reize individuellen Lebens begabt ist. In ihr hat sich
Thorwaldsen gewissermaßen selbst übertreffen; über die Züge dieser edlen Ge-


manieristische Willkür zu verwandeln. Wenn aber die bedeutenden Sculptur-
werke der Renaissance beweisen, daß man bei freierer und kühnerer Behand¬
lung der antiken Formen Schönes und Großes schaffen und den allgemeinen
Stilgesetzen genügen könne, so zeigte Thorwaldsen, daß man diese Formen
mit Strenge zu reproduciren vermöge, ohne in kalte Nachahmung zu versallen.
Hierin beruht das Eigenthümlichste seiner Erscheinung. Die Naivetät, mit der er
sich in die Anschauungs- und Gefühlsweise der Antike hineinlebte, hat etwas
Wunderbares und ist wohl einzig zu nennen in der Geschichte des modernen
Geistes. Die mythologische Welt der griechischen Phantasie war seine eigent¬
liche Heimath, und es ist natürlich, daß er von hier in das Gebiet der christ¬
lichen Vorstellungen nicht mit völliger innerer Freiheit überzugehen vermochte.
Seine christlichen Sculpturen, so groß ihre plastischen Vorzüge sind, lassen
eine tiefere Gemüthswärme, den Ausdruck eines von dem Gegenstand lebhaft
ergriffenen Gefühls in der That vermissen.

Den Höhepunkt plastischer Vollendung, den der Mereur und Hirtenknabe
bezeichnen, hat Thorwaldsen in späteren Werken kaum wieder vollständig
erreicht. Bei der fast unübersehbaren Menge der ihm übertragenen Arbeiten
beschränkte er sich häufig auf den Entwurf eines nicht streng detaillirten Mo¬
dells, dessen Ausführung er einem seiner zahlreichen Schüler überließ, ohne sie
immer genau überwachen zu können; die Massenhaftigkeit der Production,
bei der der Reichthum plastischer Erfindungsgabe immer bewunderungswürdig
bleibt, führte in manchen Werken eine Monotonie des Ausdrucks und Flüch¬
tigkeit der Formenbehandlung mit sich, die dem Betrachter das Gefühl einer
gewissen Leere zurücklassen. Am schönsten bewährte sich Thorwaldsen's Mei¬
sterschaft während dieser Zeit in der Reliefdarstellung, deren eigenthümliche,
seit den Tagen der griechischen Plastik am meisten in Vergessenheit gerathene
Gesetze von ihm geradezu aufs Neue entdeckt wurden. In dieser Gattung
der Bildnerkunst,' welche vor Allem die reine Schönheit der Linie und, jeden
Realismus der Raum- und Formenbehandlung ausschließend, bis zu gewissem
Grade eine nur schematisch andeutende Darstellungsweise fordert, bewegt sich
Thorwaldsen mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit und vollendeter Sicher¬
heit des künstlerischen Geschmackes. Vom Alexanderzuge bis zu den kleinen
anakreontischen Reliefs, die mit stilvoller Schönheit den Reiz anmuthiger
Gelegenheitsgedichte verbinden, sind die Darstellungen dieser Art Muster
ihrer Gattung. Die Porträtdarstellung lag nur wenig in der Richtung seiner
Kunst. Unter seinen Denkmalstatuen, die das Charakteristische fast immer
verallgemeinern, ohne es ideell zu vertiefen, wüßten wir nur eine einzige,
die wenig bekannte Porträtsstatue der Gräfin Baröatynska, die wirklich mit
dem unergründlichen Reize individuellen Lebens begabt ist. In ihr hat sich
Thorwaldsen gewissermaßen selbst übertreffen; über die Züge dieser edlen Ge-


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[0374] manieristische Willkür zu verwandeln. Wenn aber die bedeutenden Sculptur- werke der Renaissance beweisen, daß man bei freierer und kühnerer Behand¬ lung der antiken Formen Schönes und Großes schaffen und den allgemeinen Stilgesetzen genügen könne, so zeigte Thorwaldsen, daß man diese Formen mit Strenge zu reproduciren vermöge, ohne in kalte Nachahmung zu versallen. Hierin beruht das Eigenthümlichste seiner Erscheinung. Die Naivetät, mit der er sich in die Anschauungs- und Gefühlsweise der Antike hineinlebte, hat etwas Wunderbares und ist wohl einzig zu nennen in der Geschichte des modernen Geistes. Die mythologische Welt der griechischen Phantasie war seine eigent¬ liche Heimath, und es ist natürlich, daß er von hier in das Gebiet der christ¬ lichen Vorstellungen nicht mit völliger innerer Freiheit überzugehen vermochte. Seine christlichen Sculpturen, so groß ihre plastischen Vorzüge sind, lassen eine tiefere Gemüthswärme, den Ausdruck eines von dem Gegenstand lebhaft ergriffenen Gefühls in der That vermissen. Den Höhepunkt plastischer Vollendung, den der Mereur und Hirtenknabe bezeichnen, hat Thorwaldsen in späteren Werken kaum wieder vollständig erreicht. Bei der fast unübersehbaren Menge der ihm übertragenen Arbeiten beschränkte er sich häufig auf den Entwurf eines nicht streng detaillirten Mo¬ dells, dessen Ausführung er einem seiner zahlreichen Schüler überließ, ohne sie immer genau überwachen zu können; die Massenhaftigkeit der Production, bei der der Reichthum plastischer Erfindungsgabe immer bewunderungswürdig bleibt, führte in manchen Werken eine Monotonie des Ausdrucks und Flüch¬ tigkeit der Formenbehandlung mit sich, die dem Betrachter das Gefühl einer gewissen Leere zurücklassen. Am schönsten bewährte sich Thorwaldsen's Mei¬ sterschaft während dieser Zeit in der Reliefdarstellung, deren eigenthümliche, seit den Tagen der griechischen Plastik am meisten in Vergessenheit gerathene Gesetze von ihm geradezu aufs Neue entdeckt wurden. In dieser Gattung der Bildnerkunst,' welche vor Allem die reine Schönheit der Linie und, jeden Realismus der Raum- und Formenbehandlung ausschließend, bis zu gewissem Grade eine nur schematisch andeutende Darstellungsweise fordert, bewegt sich Thorwaldsen mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit und vollendeter Sicher¬ heit des künstlerischen Geschmackes. Vom Alexanderzuge bis zu den kleinen anakreontischen Reliefs, die mit stilvoller Schönheit den Reiz anmuthiger Gelegenheitsgedichte verbinden, sind die Darstellungen dieser Art Muster ihrer Gattung. Die Porträtdarstellung lag nur wenig in der Richtung seiner Kunst. Unter seinen Denkmalstatuen, die das Charakteristische fast immer verallgemeinern, ohne es ideell zu vertiefen, wüßten wir nur eine einzige, die wenig bekannte Porträtsstatue der Gräfin Baröatynska, die wirklich mit dem unergründlichen Reize individuellen Lebens begabt ist. In ihr hat sich Thorwaldsen gewissermaßen selbst übertreffen; über die Züge dieser edlen Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/374>, abgerufen am 23.12.2024.