Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eben erst entdeckten frühgriechischen Sculpturen widmete, muß in dieser Rück¬
sicht von besonderer Bedeutung erscheinen. Zu derselben Zeit, wo in Rom
die naiven Gemälde der vorraphaelischen Epoche einen Kreis begeisterter
Schüler um sich versammelten, studirte Thorwaldsen die äginetischen Bild¬
werke. Es war bei jenen Malern kein antiquarisches Interesse, was ihre
Betrachtung an die Meister des Quattrocento fesselte, sie fühlten sich vor den
Werken derselben sympathisch ergriffen von dem Zauber einer noch im Werden be¬
griffenen Kunst. Die Jugend der Empfindung, die hier noch stammelnd mit
dem Ausdruck ringt, erfüllt ihre Werke mit dem Hauche einer wunderbaren
Geistesfrische. Nicht Befriedigung, wohl aber fruchtbarste Anregung kann
dem productiven Sinn die noch unentwickelte Schönheit einer solchen primi¬
tiven Kunst gewähren. Aehnlich, wie jene Maler den unfertigen Werken des
15. Jahrhunderts gegenüber, mochte Thorwaldsen in Bezug auf jene alt¬
griechischen Sculpturen empfinden. Gerade das Studium ihrer gebun¬
denen Formen, die den Geist der griechischen Plastik gleichsam noch in
spröder Knospe zeigen, mochte ihn so tief in das Wesen derselben ein¬
dringen lassen. Ein Beweis,-wie lebhaft ihn der eigenthümliche Reiz
dieser Werke beschäftigte, ist die Statue der Hoffnung, jene anmuthige
Imitation des archaischen Stils, in der er die Verschlossenheit dessel¬
ben nur wenig zu freieren Formen löste. Aber auch die zwei vollendetsten
seiner Statuen, die um dieselbe Zeit entstanden, der Mercur und der Hirten¬
knabe, sind bei aller künstlerischen Freiheit der Bewegung von einer Strenge
der plastischen Form, von der man annehmen darf, daß sie in der Phantasie
des Künstlers wesentlich mit durch das Studium jener Ursprünge der grie¬
chischen Plastik befestigt wurde.

Mit Recht ist gesagt worden, daß niemals ein Künstler der griechischen
Antike so nahe gekommen, >wie Thorwaldsen in diesen beiden Werken. Es
ist das nicht zu viel behauptet, selbst wenn man die Plastiker der Renaissance
mit in Vergleich zieht. Die Genialität eines Michelangelo, die raphaslische
Anmuth eines Andrea Sansovino sprechen sich in plastischen Formen aus,
die zu den Mustern der antiken Plastik ein ähnlich freies Verhältniß zeigen,
wie die Formen der Renaissancebauten zu denen der antiken Architectur.
Die ganze Auffassung des classischen Alterthums, das überdies fast nur in
der römischen Modification bekannt war, hatte im Zeitalter der Renaissance
einen stark subjektiven Charakter, und die Kühnheit persönlicher Originalität
zeigte sich den antiken Typen gegenüber vielleicht nirgends größer, als in
Michelangelo's Sculpturen; in der That brauchten die Nacheiferer dieses ge¬
waltigen Geistes in der Richtung des von ihm betretenen Weges nur einen
Schritt weiter zu gehen, um das, was bei ihm großartig erscheint und den
Stempel genialer Berechtigung, trägt, in das künstlerisch Unerlaubte, in


eben erst entdeckten frühgriechischen Sculpturen widmete, muß in dieser Rück¬
sicht von besonderer Bedeutung erscheinen. Zu derselben Zeit, wo in Rom
die naiven Gemälde der vorraphaelischen Epoche einen Kreis begeisterter
Schüler um sich versammelten, studirte Thorwaldsen die äginetischen Bild¬
werke. Es war bei jenen Malern kein antiquarisches Interesse, was ihre
Betrachtung an die Meister des Quattrocento fesselte, sie fühlten sich vor den
Werken derselben sympathisch ergriffen von dem Zauber einer noch im Werden be¬
griffenen Kunst. Die Jugend der Empfindung, die hier noch stammelnd mit
dem Ausdruck ringt, erfüllt ihre Werke mit dem Hauche einer wunderbaren
Geistesfrische. Nicht Befriedigung, wohl aber fruchtbarste Anregung kann
dem productiven Sinn die noch unentwickelte Schönheit einer solchen primi¬
tiven Kunst gewähren. Aehnlich, wie jene Maler den unfertigen Werken des
15. Jahrhunderts gegenüber, mochte Thorwaldsen in Bezug auf jene alt¬
griechischen Sculpturen empfinden. Gerade das Studium ihrer gebun¬
denen Formen, die den Geist der griechischen Plastik gleichsam noch in
spröder Knospe zeigen, mochte ihn so tief in das Wesen derselben ein¬
dringen lassen. Ein Beweis,-wie lebhaft ihn der eigenthümliche Reiz
dieser Werke beschäftigte, ist die Statue der Hoffnung, jene anmuthige
Imitation des archaischen Stils, in der er die Verschlossenheit dessel¬
ben nur wenig zu freieren Formen löste. Aber auch die zwei vollendetsten
seiner Statuen, die um dieselbe Zeit entstanden, der Mercur und der Hirten¬
knabe, sind bei aller künstlerischen Freiheit der Bewegung von einer Strenge
der plastischen Form, von der man annehmen darf, daß sie in der Phantasie
des Künstlers wesentlich mit durch das Studium jener Ursprünge der grie¬
chischen Plastik befestigt wurde.

Mit Recht ist gesagt worden, daß niemals ein Künstler der griechischen
Antike so nahe gekommen, >wie Thorwaldsen in diesen beiden Werken. Es
ist das nicht zu viel behauptet, selbst wenn man die Plastiker der Renaissance
mit in Vergleich zieht. Die Genialität eines Michelangelo, die raphaslische
Anmuth eines Andrea Sansovino sprechen sich in plastischen Formen aus,
die zu den Mustern der antiken Plastik ein ähnlich freies Verhältniß zeigen,
wie die Formen der Renaissancebauten zu denen der antiken Architectur.
Die ganze Auffassung des classischen Alterthums, das überdies fast nur in
der römischen Modification bekannt war, hatte im Zeitalter der Renaissance
einen stark subjektiven Charakter, und die Kühnheit persönlicher Originalität
zeigte sich den antiken Typen gegenüber vielleicht nirgends größer, als in
Michelangelo's Sculpturen; in der That brauchten die Nacheiferer dieses ge¬
waltigen Geistes in der Richtung des von ihm betretenen Weges nur einen
Schritt weiter zu gehen, um das, was bei ihm großartig erscheint und den
Stempel genialer Berechtigung, trägt, in das künstlerisch Unerlaubte, in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125079"/>
          <p xml:id="ID_1117" prev="#ID_1116"> eben erst entdeckten frühgriechischen Sculpturen widmete, muß in dieser Rück¬<lb/>
sicht von besonderer Bedeutung erscheinen. Zu derselben Zeit, wo in Rom<lb/>
die naiven Gemälde der vorraphaelischen Epoche einen Kreis begeisterter<lb/>
Schüler um sich versammelten, studirte Thorwaldsen die äginetischen Bild¬<lb/>
werke. Es war bei jenen Malern kein antiquarisches Interesse, was ihre<lb/>
Betrachtung an die Meister des Quattrocento fesselte, sie fühlten sich vor den<lb/>
Werken derselben sympathisch ergriffen von dem Zauber einer noch im Werden be¬<lb/>
griffenen Kunst. Die Jugend der Empfindung, die hier noch stammelnd mit<lb/>
dem Ausdruck ringt, erfüllt ihre Werke mit dem Hauche einer wunderbaren<lb/>
Geistesfrische. Nicht Befriedigung, wohl aber fruchtbarste Anregung kann<lb/>
dem productiven Sinn die noch unentwickelte Schönheit einer solchen primi¬<lb/>
tiven Kunst gewähren. Aehnlich, wie jene Maler den unfertigen Werken des<lb/>
15. Jahrhunderts gegenüber, mochte Thorwaldsen in Bezug auf jene alt¬<lb/>
griechischen Sculpturen empfinden. Gerade das Studium ihrer gebun¬<lb/>
denen Formen, die den Geist der griechischen Plastik gleichsam noch in<lb/>
spröder Knospe zeigen, mochte ihn so tief in das Wesen derselben ein¬<lb/>
dringen lassen. Ein Beweis,-wie lebhaft ihn der eigenthümliche Reiz<lb/>
dieser Werke beschäftigte, ist die Statue der Hoffnung, jene anmuthige<lb/>
Imitation des archaischen Stils, in der er die Verschlossenheit dessel¬<lb/>
ben nur wenig zu freieren Formen löste. Aber auch die zwei vollendetsten<lb/>
seiner Statuen, die um dieselbe Zeit entstanden, der Mercur und der Hirten¬<lb/>
knabe, sind bei aller künstlerischen Freiheit der Bewegung von einer Strenge<lb/>
der plastischen Form, von der man annehmen darf, daß sie in der Phantasie<lb/>
des Künstlers wesentlich mit durch das Studium jener Ursprünge der grie¬<lb/>
chischen Plastik befestigt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1118" next="#ID_1119"> Mit Recht ist gesagt worden, daß niemals ein Künstler der griechischen<lb/>
Antike so nahe gekommen, &gt;wie Thorwaldsen in diesen beiden Werken. Es<lb/>
ist das nicht zu viel behauptet, selbst wenn man die Plastiker der Renaissance<lb/>
mit in Vergleich zieht. Die Genialität eines Michelangelo, die raphaslische<lb/>
Anmuth eines Andrea Sansovino sprechen sich in plastischen Formen aus,<lb/>
die zu den Mustern der antiken Plastik ein ähnlich freies Verhältniß zeigen,<lb/>
wie die Formen der Renaissancebauten zu denen der antiken Architectur.<lb/>
Die ganze Auffassung des classischen Alterthums, das überdies fast nur in<lb/>
der römischen Modification bekannt war, hatte im Zeitalter der Renaissance<lb/>
einen stark subjektiven Charakter, und die Kühnheit persönlicher Originalität<lb/>
zeigte sich den antiken Typen gegenüber vielleicht nirgends größer, als in<lb/>
Michelangelo's Sculpturen; in der That brauchten die Nacheiferer dieses ge¬<lb/>
waltigen Geistes in der Richtung des von ihm betretenen Weges nur einen<lb/>
Schritt weiter zu gehen, um das, was bei ihm großartig erscheint und den<lb/>
Stempel genialer Berechtigung, trägt, in das künstlerisch Unerlaubte, in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0373] eben erst entdeckten frühgriechischen Sculpturen widmete, muß in dieser Rück¬ sicht von besonderer Bedeutung erscheinen. Zu derselben Zeit, wo in Rom die naiven Gemälde der vorraphaelischen Epoche einen Kreis begeisterter Schüler um sich versammelten, studirte Thorwaldsen die äginetischen Bild¬ werke. Es war bei jenen Malern kein antiquarisches Interesse, was ihre Betrachtung an die Meister des Quattrocento fesselte, sie fühlten sich vor den Werken derselben sympathisch ergriffen von dem Zauber einer noch im Werden be¬ griffenen Kunst. Die Jugend der Empfindung, die hier noch stammelnd mit dem Ausdruck ringt, erfüllt ihre Werke mit dem Hauche einer wunderbaren Geistesfrische. Nicht Befriedigung, wohl aber fruchtbarste Anregung kann dem productiven Sinn die noch unentwickelte Schönheit einer solchen primi¬ tiven Kunst gewähren. Aehnlich, wie jene Maler den unfertigen Werken des 15. Jahrhunderts gegenüber, mochte Thorwaldsen in Bezug auf jene alt¬ griechischen Sculpturen empfinden. Gerade das Studium ihrer gebun¬ denen Formen, die den Geist der griechischen Plastik gleichsam noch in spröder Knospe zeigen, mochte ihn so tief in das Wesen derselben ein¬ dringen lassen. Ein Beweis,-wie lebhaft ihn der eigenthümliche Reiz dieser Werke beschäftigte, ist die Statue der Hoffnung, jene anmuthige Imitation des archaischen Stils, in der er die Verschlossenheit dessel¬ ben nur wenig zu freieren Formen löste. Aber auch die zwei vollendetsten seiner Statuen, die um dieselbe Zeit entstanden, der Mercur und der Hirten¬ knabe, sind bei aller künstlerischen Freiheit der Bewegung von einer Strenge der plastischen Form, von der man annehmen darf, daß sie in der Phantasie des Künstlers wesentlich mit durch das Studium jener Ursprünge der grie¬ chischen Plastik befestigt wurde. Mit Recht ist gesagt worden, daß niemals ein Künstler der griechischen Antike so nahe gekommen, >wie Thorwaldsen in diesen beiden Werken. Es ist das nicht zu viel behauptet, selbst wenn man die Plastiker der Renaissance mit in Vergleich zieht. Die Genialität eines Michelangelo, die raphaslische Anmuth eines Andrea Sansovino sprechen sich in plastischen Formen aus, die zu den Mustern der antiken Plastik ein ähnlich freies Verhältniß zeigen, wie die Formen der Renaissancebauten zu denen der antiken Architectur. Die ganze Auffassung des classischen Alterthums, das überdies fast nur in der römischen Modification bekannt war, hatte im Zeitalter der Renaissance einen stark subjektiven Charakter, und die Kühnheit persönlicher Originalität zeigte sich den antiken Typen gegenüber vielleicht nirgends größer, als in Michelangelo's Sculpturen; in der That brauchten die Nacheiferer dieses ge¬ waltigen Geistes in der Richtung des von ihm betretenen Weges nur einen Schritt weiter zu gehen, um das, was bei ihm großartig erscheint und den Stempel genialer Berechtigung, trägt, in das künstlerisch Unerlaubte, in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/373
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/373>, abgerufen am 23.12.2024.