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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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Meinung zurück, hinter dem, was man gerechterweise als Rückschlag eines
solchen Krieges erwarten könnte. Wenig ist zu spüren von einem großen
Zuge, der durch's Volk ginge, und der jetzt doppelt lebhaft sich zeigen müßte,
wenn eine gründliche Umwandlung durch mächtige Eindrücke bewirkt wäre.
Auf die erste Aufwallung ist vielfach wieder Mattherzigkeit gefolgt, und
kleine mißmuthige Bedenken auf den Jubel, der nach Wörth und noch nach
Sedan Alles fortreißend hervorbrach. Und doch ist hier zu Land die Freude
an den Triumphen der deutschen Heere weniger als anderswo verkümmert
durch die Trauer um zahlreiche Verluste. Jetzt vollends, wo die Wahlen das
Interesse wieder den Angelegenheiten des eignen Landes zuwenden, scheint
Alles in die ausgetretenen, kaum verlassenen Geleise zurückzukehren, und wenn
die Wahlprogramme auch die deutsche Frage, den Abschluß des Versassungs-
werks, selbstverständlich in den Vordergrund rücken, so fehlt doch viel, daß
dies in der Masse der Bevölkerung wirklich durchschlüge. Wiederum erlebt
man die wohlbekannten erbaulichen Scenen. Erst kommen alle möglichen
anderen Rücksichten privaten und localen Charakters, dann erst die politischen
und nationalen Interessen. Man pflegt bei dem Candidaten zunächst die
Frage zu stellen, ob er in dem Bezirk ansässig oder gebürtig ist. ob er sonst
welche Beziehungen hat, ob er ihm zu einer Eisenbahn zu verhelfen vermag.
Dann aber gilt es die gewichtige Rivalität zu tilgen zwischen den einzelnen
Städtchen und Theilen eines und desselben Wahlbezirks, denn der "Hintere
Bezirk" hat meist viele andere Neigungen und Ideen als der "vordere Be¬
zirk", und diese Fehden sind um solschwieriger beizulegen, als in der Regel alles
unter sich ebenso verfeindet, als verwandt und vervettert ist. Selten, daß
eine Candidatur allein durch das politische Programm eines bewährten Cha¬
rakters entschieden wird.

Immerhin ist vorauszusehen, daß die Physiognomie der nächsten Kammer
eine wesentlich andere sein wird, als die der aufgelösten. Vielfach haben sich
die Abgeordneten der demokratischen Richtung mit ihren Unglücksprophezei¬
ungen, die so handgreiflich widerlegt sind, die Gunst ihrer Wahlbezirke ver¬
scherzt, einige derselben sind auch, weil der Strich der Zeit einmal gegen sie
ist, freiwillig von einer Candidatur zurückgetreten. Aber man besorgt, daß
dies nicht in wünschenswerthen Maße den Candidaten der deutschen Partei
zu gut kommen werde. Ihre Anzahl wird durch die Neuwahlen voraussicht¬
lich verstärkt werden, aber schwerlich erheblich, und einige der bisherigen Ab¬
geordneten dieser Partei sind sogar in Gefahr ihre Sitze zu verlieren. Dies
allein zeigt, daß das Volk bei seinem angeblichen Umschlag sehr vorsichtig
zu Werke geht. Es ist allerdings in seinen bisherigen Ansichten erschüttert,
es ist unsicher geworden, und in dieser Lage wendet es sich zwar von der
einen Seite ab. aber es sträubt sich auf die andere Seite zu treten: vielmehr


Meinung zurück, hinter dem, was man gerechterweise als Rückschlag eines
solchen Krieges erwarten könnte. Wenig ist zu spüren von einem großen
Zuge, der durch's Volk ginge, und der jetzt doppelt lebhaft sich zeigen müßte,
wenn eine gründliche Umwandlung durch mächtige Eindrücke bewirkt wäre.
Auf die erste Aufwallung ist vielfach wieder Mattherzigkeit gefolgt, und
kleine mißmuthige Bedenken auf den Jubel, der nach Wörth und noch nach
Sedan Alles fortreißend hervorbrach. Und doch ist hier zu Land die Freude
an den Triumphen der deutschen Heere weniger als anderswo verkümmert
durch die Trauer um zahlreiche Verluste. Jetzt vollends, wo die Wahlen das
Interesse wieder den Angelegenheiten des eignen Landes zuwenden, scheint
Alles in die ausgetretenen, kaum verlassenen Geleise zurückzukehren, und wenn
die Wahlprogramme auch die deutsche Frage, den Abschluß des Versassungs-
werks, selbstverständlich in den Vordergrund rücken, so fehlt doch viel, daß
dies in der Masse der Bevölkerung wirklich durchschlüge. Wiederum erlebt
man die wohlbekannten erbaulichen Scenen. Erst kommen alle möglichen
anderen Rücksichten privaten und localen Charakters, dann erst die politischen
und nationalen Interessen. Man pflegt bei dem Candidaten zunächst die
Frage zu stellen, ob er in dem Bezirk ansässig oder gebürtig ist. ob er sonst
welche Beziehungen hat, ob er ihm zu einer Eisenbahn zu verhelfen vermag.
Dann aber gilt es die gewichtige Rivalität zu tilgen zwischen den einzelnen
Städtchen und Theilen eines und desselben Wahlbezirks, denn der „Hintere
Bezirk" hat meist viele andere Neigungen und Ideen als der „vordere Be¬
zirk", und diese Fehden sind um solschwieriger beizulegen, als in der Regel alles
unter sich ebenso verfeindet, als verwandt und vervettert ist. Selten, daß
eine Candidatur allein durch das politische Programm eines bewährten Cha¬
rakters entschieden wird.

Immerhin ist vorauszusehen, daß die Physiognomie der nächsten Kammer
eine wesentlich andere sein wird, als die der aufgelösten. Vielfach haben sich
die Abgeordneten der demokratischen Richtung mit ihren Unglücksprophezei¬
ungen, die so handgreiflich widerlegt sind, die Gunst ihrer Wahlbezirke ver¬
scherzt, einige derselben sind auch, weil der Strich der Zeit einmal gegen sie
ist, freiwillig von einer Candidatur zurückgetreten. Aber man besorgt, daß
dies nicht in wünschenswerthen Maße den Candidaten der deutschen Partei
zu gut kommen werde. Ihre Anzahl wird durch die Neuwahlen voraussicht¬
lich verstärkt werden, aber schwerlich erheblich, und einige der bisherigen Ab¬
geordneten dieser Partei sind sogar in Gefahr ihre Sitze zu verlieren. Dies
allein zeigt, daß das Volk bei seinem angeblichen Umschlag sehr vorsichtig
zu Werke geht. Es ist allerdings in seinen bisherigen Ansichten erschüttert,
es ist unsicher geworden, und in dieser Lage wendet es sich zwar von der
einen Seite ab. aber es sträubt sich auf die andere Seite zu treten: vielmehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/363>, abgerufen am 22.12.2024.