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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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den Wohnsitz nehmen wollten, die Freiheit von jeder Dienstpflicht zu, die er
oder Andere zu beanspruchen befugt wären, verlangte nur einen unbedeuten¬
den jährlichen Zins von denjenigen Ländereien, welche die neuen Einwohner
innerhalb der Stadtgemarkung anrodeten, schlug alle aus früherer Zeit
rückständigen Zinsen und Bußen nieder und wies endlich der neuen Stadt
als Einkünfte einen Theil der von da an eingehenden Bußen, sowie einen
Theil der Erbschaften ihrer Bewohner zu. So entstand Liebenau in Wahr¬
heit als eine Colville von Leibeigenen, von Hörigen. Nur darf man sich
unter der deutschen Hörigkeit, deren Ausläufer bis weit in dieses Jahrhun¬
dert herüberreichen, keine Sclaverei im antiken Sinne des Wortes vorstellen.
Niemals hat das deutsche Recht den Hörigen zur Sache herabgewürdigt,
wie das römische den Sclaven. Und wenn auch noch im fünfzehnten Jahr¬
hundert Hörige mit Kindern und Kindeskindern von ihren "Eigenthums¬
herren" verkauft und vertauscht werden, wenn auch diese Herren über die
Heirathen ihrer Hörigen ge- und verbieten können und Dienste von ihnen
fordern, welche sie wollen, so gehörte es doch zu den Ausnahmen, daß die
Dienstpflicht so mißbraucht wurde, wie z. B. im Trier'schen und in der
Wetterau, wo in Nachahmung einer französischen Sitte die Hörigen während
der Nächte, welche ihr Herr unter ihnen weilte, die Teiche mit Ruthen
peitschen mußten, um das Quaken der Frösche zu stillen. In der Regel war
die Dienstpflicht zu ertragen und die jährliche Geldabgabe, welche der Hörige
seinem Herrn zahlen mußte, eine kaum nennenswerthe. Mit der Herrschaft
über den Boden war nach deutschen Begriffen auch die Befugniß verbunden,
den Hörigen Recht zu geben und zu sprechen; der Herr setzte das Hofrecht
und war Inhaber der Gerichtsbarkeit, die für ihn eigentlich nur Geldwerth
hatte; denn die Strafen, welche erkannt wurden, liefen in seine Kasse. Das
Gericht hielt ("hegte") ein vom Gerichtsherrn bestellter Schultheiß unter Zu¬
ziehung von zwölf Beisitzern (Schöffen), welche aus den Hörigen selbst ge¬
wählt wurden und das Urtheil "fanden."

An diesen Verhältnissen änderte sich für Liebenau durch Gründung der
Stadt nur soviel, daß der Spiegel'sche Schultheiß, wenn er über Einwohner
von Liebenau zu Gericht saß, das Gericht mit Liebenauer Schöffen besetzen
mußte und daß ein Theil der Strafen eine Einnahmequelle für die Stadt
wurde. Darin bestand in Wahrheit das ganze Stadtrecht und die ganze
Stadtfreiheit. Freilich war den Städtern auch Dienstfreiheit garantirt, und
zwar nicht blos den eignen Hörigen Hermann Spiegel's, sondern überhaupt
allen, welche in der Stadt Wohnung nahmen und sich im neuen Asyle der
Botmäßigkeit ihrer bisherigen Herren entzogen; aber nur ein Menschenalter
währte diese Freiheit.

Im Jahre 1323 sehen wir Liebenau in den Händen des mächtigen


den Wohnsitz nehmen wollten, die Freiheit von jeder Dienstpflicht zu, die er
oder Andere zu beanspruchen befugt wären, verlangte nur einen unbedeuten¬
den jährlichen Zins von denjenigen Ländereien, welche die neuen Einwohner
innerhalb der Stadtgemarkung anrodeten, schlug alle aus früherer Zeit
rückständigen Zinsen und Bußen nieder und wies endlich der neuen Stadt
als Einkünfte einen Theil der von da an eingehenden Bußen, sowie einen
Theil der Erbschaften ihrer Bewohner zu. So entstand Liebenau in Wahr¬
heit als eine Colville von Leibeigenen, von Hörigen. Nur darf man sich
unter der deutschen Hörigkeit, deren Ausläufer bis weit in dieses Jahrhun¬
dert herüberreichen, keine Sclaverei im antiken Sinne des Wortes vorstellen.
Niemals hat das deutsche Recht den Hörigen zur Sache herabgewürdigt,
wie das römische den Sclaven. Und wenn auch noch im fünfzehnten Jahr¬
hundert Hörige mit Kindern und Kindeskindern von ihren „Eigenthums¬
herren" verkauft und vertauscht werden, wenn auch diese Herren über die
Heirathen ihrer Hörigen ge- und verbieten können und Dienste von ihnen
fordern, welche sie wollen, so gehörte es doch zu den Ausnahmen, daß die
Dienstpflicht so mißbraucht wurde, wie z. B. im Trier'schen und in der
Wetterau, wo in Nachahmung einer französischen Sitte die Hörigen während
der Nächte, welche ihr Herr unter ihnen weilte, die Teiche mit Ruthen
peitschen mußten, um das Quaken der Frösche zu stillen. In der Regel war
die Dienstpflicht zu ertragen und die jährliche Geldabgabe, welche der Hörige
seinem Herrn zahlen mußte, eine kaum nennenswerthe. Mit der Herrschaft
über den Boden war nach deutschen Begriffen auch die Befugniß verbunden,
den Hörigen Recht zu geben und zu sprechen; der Herr setzte das Hofrecht
und war Inhaber der Gerichtsbarkeit, die für ihn eigentlich nur Geldwerth
hatte; denn die Strafen, welche erkannt wurden, liefen in seine Kasse. Das
Gericht hielt („hegte") ein vom Gerichtsherrn bestellter Schultheiß unter Zu¬
ziehung von zwölf Beisitzern (Schöffen), welche aus den Hörigen selbst ge¬
wählt wurden und das Urtheil „fanden."

An diesen Verhältnissen änderte sich für Liebenau durch Gründung der
Stadt nur soviel, daß der Spiegel'sche Schultheiß, wenn er über Einwohner
von Liebenau zu Gericht saß, das Gericht mit Liebenauer Schöffen besetzen
mußte und daß ein Theil der Strafen eine Einnahmequelle für die Stadt
wurde. Darin bestand in Wahrheit das ganze Stadtrecht und die ganze
Stadtfreiheit. Freilich war den Städtern auch Dienstfreiheit garantirt, und
zwar nicht blos den eignen Hörigen Hermann Spiegel's, sondern überhaupt
allen, welche in der Stadt Wohnung nahmen und sich im neuen Asyle der
Botmäßigkeit ihrer bisherigen Herren entzogen; aber nur ein Menschenalter
währte diese Freiheit.

Im Jahre 1323 sehen wir Liebenau in den Händen des mächtigen


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[0339] den Wohnsitz nehmen wollten, die Freiheit von jeder Dienstpflicht zu, die er oder Andere zu beanspruchen befugt wären, verlangte nur einen unbedeuten¬ den jährlichen Zins von denjenigen Ländereien, welche die neuen Einwohner innerhalb der Stadtgemarkung anrodeten, schlug alle aus früherer Zeit rückständigen Zinsen und Bußen nieder und wies endlich der neuen Stadt als Einkünfte einen Theil der von da an eingehenden Bußen, sowie einen Theil der Erbschaften ihrer Bewohner zu. So entstand Liebenau in Wahr¬ heit als eine Colville von Leibeigenen, von Hörigen. Nur darf man sich unter der deutschen Hörigkeit, deren Ausläufer bis weit in dieses Jahrhun¬ dert herüberreichen, keine Sclaverei im antiken Sinne des Wortes vorstellen. Niemals hat das deutsche Recht den Hörigen zur Sache herabgewürdigt, wie das römische den Sclaven. Und wenn auch noch im fünfzehnten Jahr¬ hundert Hörige mit Kindern und Kindeskindern von ihren „Eigenthums¬ herren" verkauft und vertauscht werden, wenn auch diese Herren über die Heirathen ihrer Hörigen ge- und verbieten können und Dienste von ihnen fordern, welche sie wollen, so gehörte es doch zu den Ausnahmen, daß die Dienstpflicht so mißbraucht wurde, wie z. B. im Trier'schen und in der Wetterau, wo in Nachahmung einer französischen Sitte die Hörigen während der Nächte, welche ihr Herr unter ihnen weilte, die Teiche mit Ruthen peitschen mußten, um das Quaken der Frösche zu stillen. In der Regel war die Dienstpflicht zu ertragen und die jährliche Geldabgabe, welche der Hörige seinem Herrn zahlen mußte, eine kaum nennenswerthe. Mit der Herrschaft über den Boden war nach deutschen Begriffen auch die Befugniß verbunden, den Hörigen Recht zu geben und zu sprechen; der Herr setzte das Hofrecht und war Inhaber der Gerichtsbarkeit, die für ihn eigentlich nur Geldwerth hatte; denn die Strafen, welche erkannt wurden, liefen in seine Kasse. Das Gericht hielt („hegte") ein vom Gerichtsherrn bestellter Schultheiß unter Zu¬ ziehung von zwölf Beisitzern (Schöffen), welche aus den Hörigen selbst ge¬ wählt wurden und das Urtheil „fanden." An diesen Verhältnissen änderte sich für Liebenau durch Gründung der Stadt nur soviel, daß der Spiegel'sche Schultheiß, wenn er über Einwohner von Liebenau zu Gericht saß, das Gericht mit Liebenauer Schöffen besetzen mußte und daß ein Theil der Strafen eine Einnahmequelle für die Stadt wurde. Darin bestand in Wahrheit das ganze Stadtrecht und die ganze Stadtfreiheit. Freilich war den Städtern auch Dienstfreiheit garantirt, und zwar nicht blos den eignen Hörigen Hermann Spiegel's, sondern überhaupt allen, welche in der Stadt Wohnung nahmen und sich im neuen Asyle der Botmäßigkeit ihrer bisherigen Herren entzogen; aber nur ein Menschenalter währte diese Freiheit. Im Jahre 1323 sehen wir Liebenau in den Händen des mächtigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/339>, abgerufen am 22.12.2024.