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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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und wir dürfen diese Rechte mit getrosten Muthe geltend machen, weil der
deutsche Sinn in Elsässern und Lothringern zuverlässig wieder lebendig wer¬
den muß. Wer so lange die angestammte Sprache bewahrte, wer den be"
harrlichen Maßnahmen einer starken Regierungsgewalt, einer wuchtigen
Staatsverwaltung darin so beharrlich Widerstand, muß den Kern seines
Volksthums unversehrt behalten haben, mag auch die äußere Erscheinung,
mögen Form und Sitte nicht unversehrt geblieben sein. Es wird darauf
ankommen, die fremden Bestandtheile, die sich an den Kern ansetzten, wieder
zu entfernen, es wird darauf ankommen, dem Volksthum der Elsässer und
Lothringer die nationale Entwickelung wieder zuzuführen.

Die Aufgabe leitet unwillkürlich auf die Zeiten und Umstände zurück,
in und unter denen sich das deutsche Volk in seiner größeren Gesammtheit
national erneuerte. Wie oft ist dieser merkwürdige Bildungsproceß an un¬
seren Blicken vorübergezogen und wie sehn wir ihn doch jedes Mal mit neuem
Staunen an uns vorüberziehen! Die Bilder aus der deutschen Vergangen¬
heit werden uns um so lieber, je mehr wir ihren fortschreitenden Gedanken,
ihren inneren Zusammenhang gewahren und erkennen. Der Aufgang deut¬
schen Wesens seit dem dreißigjährigen Krieg, nach seiner beispiellosen Ver¬
schleuderung und Verzettelung unserer Volkskraft, ist ein geschichtliches Schau¬
spiel eigenthümlicher Art. Es fesselt immer aufs neue, wie das staatlich ent¬
kräftete Volk sich zu geistiger Macht und Bedeutung emporarbeitete, wie es
mit unübertroffener Beharrlichkeit der geistigen Weltherrschaft zustrebte, wie
es in der Zeit tiefer äußerer Erniedrigung eine Kunstblüthe zu Tage för¬
derte, deren Früchte für alle Zukunft zu den besten Hervorbringungen der
Nation zählen werden. Es ist, als ob diese geistige Vollendung hätte voraus¬
gehen müssen, ehe sich unser Volk den weltlichen Aufgaben wieder zuwandte
als ob dasselbe erst innerlich wieder zum Abschluß gelangen mußte, ehe es
den äußerlichen Abschluß seines Seins und Wesens neu zu erringen suchte.

Wir weisen auf diese bekannten Vorgänge hin, weil sie auf das Gesetz
hinführen, das der in Elsaß und Lothringen zu lösenden Aufgabe gegenüber
Geltung zu haben scheint. Wir meinen das Gesetz der geistigen Erziehung
für den Staat, das unserer nationalen Entwickelung zu Grunde liegt. Die
allgemeine Wehrpflicht hat tief auf unsere staatliche Erneuerung eingewirkt,
aber was wäre sie ohne die allgemeine Schulpflicht gewesen?

Wie soll dieses Gesetz in Bezug aus Elsaß und Lothringen Anwendung
finden?

Wer selbst in den deutschen Westmarken war oder über ihre Zustände
liest, wer Land und Leute in Elsaß und Lothringen aus Wort oder Schrift
kennen lernte, fühlt, daß mehr als die staatliche Trennung die geistige die
Bewohner zwischen Maas, Mosel und Rhein ihrem Stammvolke entfremdete.


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und wir dürfen diese Rechte mit getrosten Muthe geltend machen, weil der
deutsche Sinn in Elsässern und Lothringern zuverlässig wieder lebendig wer¬
den muß. Wer so lange die angestammte Sprache bewahrte, wer den be»
harrlichen Maßnahmen einer starken Regierungsgewalt, einer wuchtigen
Staatsverwaltung darin so beharrlich Widerstand, muß den Kern seines
Volksthums unversehrt behalten haben, mag auch die äußere Erscheinung,
mögen Form und Sitte nicht unversehrt geblieben sein. Es wird darauf
ankommen, die fremden Bestandtheile, die sich an den Kern ansetzten, wieder
zu entfernen, es wird darauf ankommen, dem Volksthum der Elsässer und
Lothringer die nationale Entwickelung wieder zuzuführen.

Die Aufgabe leitet unwillkürlich auf die Zeiten und Umstände zurück,
in und unter denen sich das deutsche Volk in seiner größeren Gesammtheit
national erneuerte. Wie oft ist dieser merkwürdige Bildungsproceß an un¬
seren Blicken vorübergezogen und wie sehn wir ihn doch jedes Mal mit neuem
Staunen an uns vorüberziehen! Die Bilder aus der deutschen Vergangen¬
heit werden uns um so lieber, je mehr wir ihren fortschreitenden Gedanken,
ihren inneren Zusammenhang gewahren und erkennen. Der Aufgang deut¬
schen Wesens seit dem dreißigjährigen Krieg, nach seiner beispiellosen Ver¬
schleuderung und Verzettelung unserer Volkskraft, ist ein geschichtliches Schau¬
spiel eigenthümlicher Art. Es fesselt immer aufs neue, wie das staatlich ent¬
kräftete Volk sich zu geistiger Macht und Bedeutung emporarbeitete, wie es
mit unübertroffener Beharrlichkeit der geistigen Weltherrschaft zustrebte, wie
es in der Zeit tiefer äußerer Erniedrigung eine Kunstblüthe zu Tage för¬
derte, deren Früchte für alle Zukunft zu den besten Hervorbringungen der
Nation zählen werden. Es ist, als ob diese geistige Vollendung hätte voraus¬
gehen müssen, ehe sich unser Volk den weltlichen Aufgaben wieder zuwandte
als ob dasselbe erst innerlich wieder zum Abschluß gelangen mußte, ehe es
den äußerlichen Abschluß seines Seins und Wesens neu zu erringen suchte.

Wir weisen auf diese bekannten Vorgänge hin, weil sie auf das Gesetz
hinführen, das der in Elsaß und Lothringen zu lösenden Aufgabe gegenüber
Geltung zu haben scheint. Wir meinen das Gesetz der geistigen Erziehung
für den Staat, das unserer nationalen Entwickelung zu Grunde liegt. Die
allgemeine Wehrpflicht hat tief auf unsere staatliche Erneuerung eingewirkt,
aber was wäre sie ohne die allgemeine Schulpflicht gewesen?

Wie soll dieses Gesetz in Bezug aus Elsaß und Lothringen Anwendung
finden?

Wer selbst in den deutschen Westmarken war oder über ihre Zustände
liest, wer Land und Leute in Elsaß und Lothringen aus Wort oder Schrift
kennen lernte, fühlt, daß mehr als die staatliche Trennung die geistige die
Bewohner zwischen Maas, Mosel und Rhein ihrem Stammvolke entfremdete.


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[0195] und wir dürfen diese Rechte mit getrosten Muthe geltend machen, weil der deutsche Sinn in Elsässern und Lothringern zuverlässig wieder lebendig wer¬ den muß. Wer so lange die angestammte Sprache bewahrte, wer den be» harrlichen Maßnahmen einer starken Regierungsgewalt, einer wuchtigen Staatsverwaltung darin so beharrlich Widerstand, muß den Kern seines Volksthums unversehrt behalten haben, mag auch die äußere Erscheinung, mögen Form und Sitte nicht unversehrt geblieben sein. Es wird darauf ankommen, die fremden Bestandtheile, die sich an den Kern ansetzten, wieder zu entfernen, es wird darauf ankommen, dem Volksthum der Elsässer und Lothringer die nationale Entwickelung wieder zuzuführen. Die Aufgabe leitet unwillkürlich auf die Zeiten und Umstände zurück, in und unter denen sich das deutsche Volk in seiner größeren Gesammtheit national erneuerte. Wie oft ist dieser merkwürdige Bildungsproceß an un¬ seren Blicken vorübergezogen und wie sehn wir ihn doch jedes Mal mit neuem Staunen an uns vorüberziehen! Die Bilder aus der deutschen Vergangen¬ heit werden uns um so lieber, je mehr wir ihren fortschreitenden Gedanken, ihren inneren Zusammenhang gewahren und erkennen. Der Aufgang deut¬ schen Wesens seit dem dreißigjährigen Krieg, nach seiner beispiellosen Ver¬ schleuderung und Verzettelung unserer Volkskraft, ist ein geschichtliches Schau¬ spiel eigenthümlicher Art. Es fesselt immer aufs neue, wie das staatlich ent¬ kräftete Volk sich zu geistiger Macht und Bedeutung emporarbeitete, wie es mit unübertroffener Beharrlichkeit der geistigen Weltherrschaft zustrebte, wie es in der Zeit tiefer äußerer Erniedrigung eine Kunstblüthe zu Tage för¬ derte, deren Früchte für alle Zukunft zu den besten Hervorbringungen der Nation zählen werden. Es ist, als ob diese geistige Vollendung hätte voraus¬ gehen müssen, ehe sich unser Volk den weltlichen Aufgaben wieder zuwandte als ob dasselbe erst innerlich wieder zum Abschluß gelangen mußte, ehe es den äußerlichen Abschluß seines Seins und Wesens neu zu erringen suchte. Wir weisen auf diese bekannten Vorgänge hin, weil sie auf das Gesetz hinführen, das der in Elsaß und Lothringen zu lösenden Aufgabe gegenüber Geltung zu haben scheint. Wir meinen das Gesetz der geistigen Erziehung für den Staat, das unserer nationalen Entwickelung zu Grunde liegt. Die allgemeine Wehrpflicht hat tief auf unsere staatliche Erneuerung eingewirkt, aber was wäre sie ohne die allgemeine Schulpflicht gewesen? Wie soll dieses Gesetz in Bezug aus Elsaß und Lothringen Anwendung finden? Wer selbst in den deutschen Westmarken war oder über ihre Zustände liest, wer Land und Leute in Elsaß und Lothringen aus Wort oder Schrift kennen lernte, fühlt, daß mehr als die staatliche Trennung die geistige die Bewohner zwischen Maas, Mosel und Rhein ihrem Stammvolke entfremdete. 24*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/195>, abgerufen am 03.01.2025.