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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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deutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität" (Berlin, F. Dümm-
ler 1866, aus der Ztschr. f. Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft). Die
Karte ist nicht nur dem Maßstabe nach die größte, sondern auch, wie Adolf
Wagner mit Recht urtheilt, die vortrefflichste von allen, deshalb, weil sie
durchweg auf statistisch sicheren Zahlen beruht -- die Aufnahmen aus dem
Jahre 1861 liegen zu Grunde -- und dann besonders weil sie ohne Ab¬
weichung ein und dasselbe klare und ebenmäßige Eintheilungsprincip befolgt,
von 20zu20"/o die Mischungsgrade verzeichnend. Das merkwürdige Durch-
einanderwohnen der verschiedenen Sprachgenossen, das -- eine Folge fort¬
schreitender friedlicher Germanisirung der lettischen und polnischen Sprachge¬
biete -- für unsere östlichen Provinzen gerade charakteristisch ist, springt auf
diese Weise dem Beschauer lebendig in die Augen. Die genannte Abhand¬
lung sodann ist ein theoretisches Vorspiel zu dem späteren Hauptwerke. Sie
reinigt den Boden kritisch von falschen Ansichten über das Wesen der
Nationalität wie sie inner- und außerhalb der Statistik, theils arglos, theils
mit bösem Vorbedacht noch gehegt und gepflegt werden. Wie die preußische
Statistik schon seit längerer Zeit praktisch gewohnt ist, setzt Böckh hier wissen¬
schaftlich die Begriffe Nationalität und Volkssprache einander durchaus gleich.
Er weist die sogenannte natürliche Begrenzung wie die historische Zusammen¬
gehörigkeit als falsche Zeichen der Volkseinheit zurück, beides willkürliche
Vorstellungen, jene im besten Falle gelehrter Geographen, denen das lebendige
Menschendasein über der Betrachtung aneinander gelehrter Bergreihen oder
zusammenrinnender Gewässer verschwindet, diese als quälende Erinnerung in
der Sehnsucht der Völker wirksam, die von alter weitausgreifender Herrschaft
auf ein bescheidenes Machtmaß zurückgedrängt sind. Nicht minder werden
die oberflächlichen Beobachter widerlegt, Touristen und Aphoristen, welche
aus äußeren Eigenthümlichkeiten des Volkslebens, den sogenannten Sitten
und Gebräuchen, oder aus der Körperbeschoffenheit der Individuen Merkmale
der Nationalität zu gewinnen vermeinen. Als ebenso trügerisch erweist sich der
Versuch, aus Namen und Abstammung des Einzelnen sein Volksthumzubestimmen.
Die gefährlichste von allen Täuschungen ist endlich, die Staatsangehörigkeit mit
der Nationalität zu verwechseln. Dahin zielte stets mit gewandter Dialektik die
französische Nation und ihre statistischen Vertreter, theils aus eingefleischtem Gleich¬
heitsfanatismus, theils um geistige Tyrannei gegen unterworfene Fremdzüngige
zu bemänteln. Ebendahin strebt mit roher, bildungsfeindlicher Gewalt das
moderne Rußland. Dawider aber erheben sich die Gefühle der Völker, da¬
gegen donnern die Schlachten unseres Zeitalters. Das Nationalitätsprincip ist
rasch zu so anerkannter Macht emporgediehen, daß es, wie einst die religiösen
Ideen auch ihm selber feindlichen Bestrebungen hat zum Schilde dienen müssen.
Da war es denn hoch an der Zeit, daß sich die deutsche Wissenschaft herbei,


deutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität" (Berlin, F. Dümm-
ler 1866, aus der Ztschr. f. Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft). Die
Karte ist nicht nur dem Maßstabe nach die größte, sondern auch, wie Adolf
Wagner mit Recht urtheilt, die vortrefflichste von allen, deshalb, weil sie
durchweg auf statistisch sicheren Zahlen beruht — die Aufnahmen aus dem
Jahre 1861 liegen zu Grunde — und dann besonders weil sie ohne Ab¬
weichung ein und dasselbe klare und ebenmäßige Eintheilungsprincip befolgt,
von 20zu20"/o die Mischungsgrade verzeichnend. Das merkwürdige Durch-
einanderwohnen der verschiedenen Sprachgenossen, das — eine Folge fort¬
schreitender friedlicher Germanisirung der lettischen und polnischen Sprachge¬
biete — für unsere östlichen Provinzen gerade charakteristisch ist, springt auf
diese Weise dem Beschauer lebendig in die Augen. Die genannte Abhand¬
lung sodann ist ein theoretisches Vorspiel zu dem späteren Hauptwerke. Sie
reinigt den Boden kritisch von falschen Ansichten über das Wesen der
Nationalität wie sie inner- und außerhalb der Statistik, theils arglos, theils
mit bösem Vorbedacht noch gehegt und gepflegt werden. Wie die preußische
Statistik schon seit längerer Zeit praktisch gewohnt ist, setzt Böckh hier wissen¬
schaftlich die Begriffe Nationalität und Volkssprache einander durchaus gleich.
Er weist die sogenannte natürliche Begrenzung wie die historische Zusammen¬
gehörigkeit als falsche Zeichen der Volkseinheit zurück, beides willkürliche
Vorstellungen, jene im besten Falle gelehrter Geographen, denen das lebendige
Menschendasein über der Betrachtung aneinander gelehrter Bergreihen oder
zusammenrinnender Gewässer verschwindet, diese als quälende Erinnerung in
der Sehnsucht der Völker wirksam, die von alter weitausgreifender Herrschaft
auf ein bescheidenes Machtmaß zurückgedrängt sind. Nicht minder werden
die oberflächlichen Beobachter widerlegt, Touristen und Aphoristen, welche
aus äußeren Eigenthümlichkeiten des Volkslebens, den sogenannten Sitten
und Gebräuchen, oder aus der Körperbeschoffenheit der Individuen Merkmale
der Nationalität zu gewinnen vermeinen. Als ebenso trügerisch erweist sich der
Versuch, aus Namen und Abstammung des Einzelnen sein Volksthumzubestimmen.
Die gefährlichste von allen Täuschungen ist endlich, die Staatsangehörigkeit mit
der Nationalität zu verwechseln. Dahin zielte stets mit gewandter Dialektik die
französische Nation und ihre statistischen Vertreter, theils aus eingefleischtem Gleich¬
heitsfanatismus, theils um geistige Tyrannei gegen unterworfene Fremdzüngige
zu bemänteln. Ebendahin strebt mit roher, bildungsfeindlicher Gewalt das
moderne Rußland. Dawider aber erheben sich die Gefühle der Völker, da¬
gegen donnern die Schlachten unseres Zeitalters. Das Nationalitätsprincip ist
rasch zu so anerkannter Macht emporgediehen, daß es, wie einst die religiösen
Ideen auch ihm selber feindlichen Bestrebungen hat zum Schilde dienen müssen.
Da war es denn hoch an der Zeit, daß sich die deutsche Wissenschaft herbei,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/189>, abgerufen am 22.12.2024.